Im Grunde genommen darf man den Ich-Erzählern in den Romanen von Norbert Gstrein nicht über den Weg trauen. Das war schon bei seinem vorletzten Werk »Als ich jung war« so, das wir als Fortsetzungsroman in dieser Zeitung abgedruckt haben. Da schickte der österreichische Schriftsteller, der heute in Hamburg lebt, einen Gastwirtssohn aus dem hintersten Tirol für 13 Jahre als Skilehrer nach Wyoming. Und nur nach und nach erfahren wir etwas über die wahren Beweggründe dieser Flucht aus der Heimat.
Mit Widerwillen
Auch der »zweite Jakob« ist ein unzuverlässiger Erzähler. Nur mit Widerwillen lässt der Schauspieler, der seinen Zenit schon längst überschritten hat, etwas über seine Vergangenheit raus. Und das meist nur auf Druck. Die Fragen des Schreiberlings nerven den überheblichen Selbstdarsteller derart, dass es sogar zu Handgreiflichkeiten kommt. Aber seine Tochter Luzie bohrt nach: »Was ist das Schlimmste, das du je in deinem Leben getan hast?«
Wieder schickt Gstrein seinen Protagonisten in die USA - diesmal zu Dreharbeiten nach El Paso, wo an der Grenze zu Mexiko ein zweitklassiger Actionfilm entstehen soll. Minutiös beschreibt der Autor das erste Zusammentreffen der Mitspieler auf einer Ranch in Montana und später dann die mühseligen Dreharbeiten in der texanischen Wüste, bei denen jeder jeden beäugt, sich die Spannung nicht selten durch allzu viel Alkoholgenuss entlädt. Bis es zu einem tragischen Unfall kommt, bei dem Jakob zwar nicht am Steuer sitzt, doch mit seiner Kollegin Fahrerflucht begeht. Eine Straftat, die ihn jahrelang verfolgen wird.
Wer ist nun dieser Jakob Thurner? »Nichts stimmt mit Jakob in diesem durch und durch stimmigen Roman«, befand die Jury und verlieh Norbert Gstrein dafür erst vor wenigen Wochen den mit 20 000 Euro dotierten Düsseldorfer Literaturpreis 2021. Es ist die Kunst des ausgezeichneten Literaten, die vieles im Vagen hält, Fragen aufwirft, aber kaum Antworten gibt. Oder wie es der 59-Jährige bei einer Lesung im vergangenen Herbst in Gießen formulierte: »Ich schrecke vor allzu festen Behauptungen zurück.«
Stets neue Facetten
Der Autor erweist sich als detailgenauer Beobachter und überlässt dem Leser das Urteil über seine Hauptfigur, bei der sich immer neue Facetten herauskristallisieren - wie bei einer Zwiebel, deren Schichten man schält. Dabei stellt sich gerade beim offenen Ende - dem eigentlichen Tag des 60. Geburtstags - durchaus eine unbefriedigende Ratlosigkeit ein. Aber immerhin haben wir die Bekanntschaft mit dem »ersten Jakob« gemacht - ein alter, verhuschter Verwandter unseres Sprösslings einer wohlhabenden Hoteliersfamilie. Luzie jedenfalls findet ihn sympathisch.
Norbert Gstrein: »Der zweite Jakob«. Carl Hanser Verlag, München. 447 S., 25 Euro, ISBN 978-3-446-26916-3