Der Schock ist vielen Abgeordneten im Thüringer Landtag anzusehen: Auch Thomas Kemmerich selbst, der FDP-Landeschef, der plötzlich Ministerpräsident ist, wirkt zunächst konsterniert und ratlos, als das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl verkündet wird. Der 54-Jährige wurde am Mittwoch von den Abgeordneten des Parlaments in Erfurt überraschend zum Regierungschef gewählt - auch mit Stimmen der AfD von Landeschef Björn Höcke. Der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) unterlag in der geheimen Abstimmung.
Fünf Jahre lang war die FDP überhaupt nicht im Parlament vertreten, schaffte den Einzug bei der Landtagswahl im Herbst mit nur 73 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde. Kemmerich scheint kurz zu zögern, als Landtagspräsidentin Birgit Keller ihn fragt, ob er die Wahl annehme, stimmt dann aber zu.
Die politische Situation in Thüringen ist seit der Landtagswahl Ende Oktober ohnehin kompliziert. Sie dürfte nun kaum einfacher werden. Ramelows früheres Regierungsbündnis von Linke, SPD und Grünen hat im Parlament mit 42 Sitzen keine Mehrheit, seine geplante Bildung einer Minderheitsregierung ist gescheitert. Dagegen kommen AfD, CDU und FDP zusammen auf 48 Sitze, was für eine Mehrheit reichen würde. Allerdings hatten Christdemokraten und Liberale eine Zusammenarbeit mir der AfD kategorisch ausgeschlossen - eigentlich.
Thüringens CDU-Landespartei- und Fraktionsvorsitzende Mike Mohring forderte nach der Wahl Kemmerich auf, sich klar von der AfD abzugrenzen. »Jetzt erwarten wir, dass Thomas Kemmerich als neu gewählter Ministerpräsident dem Land ganz klar erklärt, dass er für eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht zur Verfügung steht.« Das tat Kemmerich kurze Zeit später dann auch. »Die Brandmauern gegenüber der AfD bleiben bestehen«, sagte Thomas Kemmerich. Die Brandmauer gebe es aber auch gegenüber der Linken.
Der frisch gewählte Ministerpräsident muss nun ein Kabinett aufstellen. Die Ernennung und Vereidigung der Minister wurde am Mittwoch abgesagt. Wie geht es nun weiter in Thüringen? Drei denkbare Szenarien:
Simbabwe-Koalition - benannt nach den Farben der Flagge des afrikanischen Landes: Dieser Versuch war nach der Landtagswahl schon einmal gescheitert. Es wäre ein Bündnis aus CDU, FDP, SPD und Grünen. Sozialdemokraten und Grüne entschieden sich früh und klar, lieber mit der Linken weiterzumachen. Auch diesmal gilt eine solche Minderheitskoalition als sehr unwahrscheinlich. Grüne und SPD winkten nach der Wahl Kemmerichs unmissverständlich ab. »Wir werden keinerlei Kabinettsangebote von Herrn Kemmerich annehmen«, sagte SPD-Fraktionschef Matthias Hey. Er schloss aus, dass die Thüringer Sozialdemokraten mit einem Ministerpräsidenten, der mit AfD-Stimmen gewählt wurde, zusammenarbeiten werden. Die Grünen kündigten an, in die Opposition zu gehen.
Minderheitsregierung von CDU und FDP - Die FDP wäre in dieser Konstellation der Minipartner. Sie hat nur fünf Abgeordnete im Landtag, die CDU kommt auf 21. Dennoch: Eine solche Minderheitsregierung ist zumindest denkbar, weil CDU und FDP gern miteinander zusammenarbeiten wollen. Bleiben SPD, Grüne und Linke bei ihrem »Nein« zu einer Zusammenarbeit mit Kemmerich, könnte eine solche Regierung nur Mehrheiten zusammen mit der AfD finden.
Vertrauensfrage oder Neuwahlen - Die Rufe nach Neuwahlen werden auch bundesweit immer lauter. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte: »Ich sehe keine stabile Grundlage für den jetzt gewählten Ministerpräsidenten und insofern bin ich der Auffassung, dass man darüber reden muss, ob neue Wahlen nicht der sauberste Weg aus dieser Situation sind.« Auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak und CSU-Chef Markus Söder sprachen sich für Neuwahlen aus.
Bisher galt dieses Szenario in Thüringen als unwahrscheinlich. Grund ist, dass dafür eine Zweidrittelmehrheit im Landtag nötig wäre. Aber auch Neuwahlen nach einer erfolglosen Vertrauensfrage und anschließend gescheiterter Wahl eines neuen Ministerpräsidenten wären denkbar. Um das Vertrauen zu erhalten, wäre eine absolute Mehrheit nötig - 46 Stimmen. Die Vertrauensfrage müsste Kemmerich stellen. Sollte das Vertrauen nicht ausgesprochen werden, hätte der Landtag drei Wochen Zeit, einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Sollte dies in dieser Frist nicht gelingen, gäbe es Neuwahlen.