12. März 2021, 23:37 Uhr

Handball

Meistertrainer Dr. Jürgen Gerlach gestorben

Der »Doc« lebt nicht mehr. Eine tief traurige Nachricht. Der Frauenhandball-Erfolgstrainer der 80er-, 90er- und 2000er Jahre ist am Freitag im Alter von 74 Jahren einer Herzattacke erlegen.
12. März 2021, 23:37 Uhr
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Von Ralf Waldschmidt
Dr. Jürgen Gerlach †. FOTO: REHOR

Der »Doc« ist tot. Die Nachricht verbreitete sich am Freitag nachmittag wie ein Lauffeuer. Nur wenige Stunden nach seinem Ableben in seiner Wohnung in Biebertal häuften sich die Beleidsbekundungen aus weiten Teilen des Landes - selbst aus Moskau meldete sich der mit Dr. Gerlach freundschaftlich verbundene aktuelle russische Nationaltrainer Velimir Petkovic (ehemals HSG Dutenhofen/Münchholzhausen).

Dr. Jürgen Gerlach war der erfolgreichste deutsche Frauenhandball-Trainer aller Zeiten. Mit dem TV Gießen-Lützellinden feierte er deutsche Meisterschaften, Siege im DHB-Pokal und im Europapokal. Drei Jahrzehnte war der »Doc« im Trainer-Geschäft, seit dem Aus des Frauen-Zweitligisten TV 05 Mainzlar vor zehn Jahren hatte er aber keinen Trainerjob mehr inne.

Der letzte von drei Europapokal-Erfolgen (1991, 1993, 1996) liegt 25 Jahre zurück, der letzte von sieben DM-Titelgewinnen (1988, 1989, 1990, 1993, 1997, 2000, 2001) exakt 20 Jahre. Zu den Triumphen gehören noch fünf DHB-Pokal-Siege (1989, 1990, 1992, 1998 und 1999) sowie der DM-Titel mit der Lützellindener A-Jugend 2006.

Der Handball-Trainer Dr. Jürgen Gerlach, geboren am 17. November 1946, stand seit langem nicht mehr in der Öffentlichkeit. Nach 30 Trainer-Jahren beim inzwischen aus dem Vereinsregister gelöschten TV Lützellinden und dem Aus des TV 05 Mainzlar rückten beim Biebertaler verstärkt wieder der Beruf und die Musik in den Mittelpunkt.

Der »Doc« hatte mehr erreicht als andere. Von sich selbst behauptete er »Fleißarbeiter und Visionär « zugleich zu sein. Dr. Gerlach hatte seit seinen ersten Auftritten auf der nationalen und internationalen Frauenhandball-Bühne für Furore gesorgt. Er war in seinem Vorwärtsstreben immer auf heftigen Widerstand gestoßen und hat dennoch - besonders hierzulande - Pionierarbeit geleistet.

Das Leben des »Doc« war faktensatt (selbst aktiver Handballer u. a. bei der KSG Bieber und dem TV Münchholzhausen/deutscher Jugend-Meister mit dem TSV Dutenhofen als Trainer etc.) und anekdotenreich (in Frankfurt/Oder hielt er seinerzeit - lange vor dem Fall der Mauer - Nachtwache vor dem Zimmer von Barbara Krefft). Und als besonnener Arzt hat er ebenso den Erfolgsweg eingeschlagen und Vertrauen gewonnen.

Über den Mann auf der Bank, der an der Seitenlinie in die Rolle des herumtobenden Poltergeistes schlüpfte und dabei vor allem denen einen Schrecken einjagte, die seine vielen anderen Seiten kannten, hat man viele Geschichten schreiben können. An Dr. Gerlach schieden sich die Geister. Für die einen war er Handball-Guru oder Hexenmeister, der aus einem diffusen Denken immer wieder ein lehrbares, innovatives System entwickelte. Für die anderen war er Doppelzüngler und Machtbessener, der mit zuweilen unbequemer Hartnäckigkeit seine Ziele verfolgte und dabei auch vor Konfrontationen nicht zurückschreckte. Vor allem aber war er ein »Handball-Besessener«, wie ihn sein größter Gegenspieler Gunnar Prokop (Wien) gerne bezeichnete.

In den frühen 80er Jahren wollte Dr. Gerlach für den Frauenhandball neue Wege aufzeigen. Dr. Gerlach hatte früh erkannt, dass Fleiß die Voraussetzung für das Erreichen der selbst gesteckten Ziele ist. Das Bild vom Workaholic passte deshalb nicht zu ihm. »Der Erfolg liegt im Verzicht begründet«, betonte er immer wieder. Zwischenzeitlich verzichtete er auf immer weniger, zumal er durch den Sport schon einiges von der Welt (Wien, Moskau, Budapest etc.) gesehen hatte, zumal ihm der Sport zu einem beachtlichen gesellschaftlichen Renomee verholfen hatte. Auch wenn in ihm zuweilen ein Genie zu schlummern schien und er seine Spielerinnen immer wieder mit neuen innovativen Trainingsmethoden überraschte, so war es doch erst der Fleißarbeiter Gerlach, der die Umsetzung der eigenen Visionen ermöglichte. Zu seinem 50. Geburtstag hatte Dr. Gerlach seine Lebensdevise bekräftigt: Zum Erfolg gibt es keinen Lift, man muss die Treppe benutzen.

Zu jeder Zeit hatte Dr. Gerlach starke Spielerinnen in seinen Teams bzw. an seiner Seite. Mit Ulrike Valentin und Marion Böhm gelang der Erstliga-Aufstieg, mit Barbara Wenzl, Elena Leonte und Renate Wolf waren die ersten großen nationalen Erfolg verbunden. Als Weltstars wie Dragica Djuric, Eva Kiss und Csilla Elekes nach Mittelhessen kamen, gelang von 1991 bis 1995 fünf Jahre in Serie der Einzug in ein europäisches Finale.

Keine Frage: Dr. Gerlach hat den deutschen Frauenhandball revolutioniert, hat als fleißiger Kopfarbeiter stets Entwicklungen erkannt oder selbst in Gang gesetzt. Im Rampenlicht der Öffentlichkeit bewegte sich Dr. Gerlach über Jahrzehnte. Zahlreiche Ehrungen bei Empfängen und Bällen sind dem Biebertaler Orthopäden durch Sport, Politik, Verbände und Verein zuteil geworden. Handball war lange sein Leben. Der Tag von Dr. Gerlach begann über Jahre hinweg schon weit vor sechs Uhr in der Früh, erst weit nach Mitternacht endete er.

Handball, Praxis, Handball oder umgekehrt. Dazu ein wenig Klavier spielen, etwas Golfen - und vor allem das Kümmern um pflegebedürftige Angehörige und Freunde. Die harte Schale des Besessenen, des Lautsprechers, des Unbequemen hatte durchaus den weichen Kern des Fürsorglichen, des sozial Engagierten, des Verantwortungsbewussten.

Mit über 70 ist man für gewöhnlich im Ruhestand. Der Biebertaler war es keineswegs, obwohl er lange Zeit, für ihn ungewohnt, mit einer hartnäckigen Krankheit zu kämpfen hatte, danach aber wieder auf den Beinen und zeitweise in seinen Praxisräumen war.

Auch wenn sein Wirken beim TVL und beim TVM lange Geschichte ist, so hat Dr. Jürgen Gerlach den deutschen Frauenhandball geprägt wie kein Zweiter und diesem bislang als einziger Trainer den Europapokalsieg bei den Landesmeistern eingebracht.

Der Region Mittelhessen hat er über zwei Jahrzehnte ein permanentes Wachstum im Frauenhandball beschert, besonders bei den von seiner Tätigkeit profitierenden unterklassigen Clubs. Dr. Gerlach hat mit dem und für den Frauenhandball unzählige Geschichten geschrieben.

Positive in Europas Hallen von Wien bis Trondheim, skandalöse wie die »Affäre Biele«. Schon Mitte der 90er Jahre hatte - finanziell bedingt - der schleichende Niedergang eingesetzt, den weder der letzte DM-Titelgewinn 2001 noch seine jährlichen persönlichen Finanzspritzen aufhalten konnten. Nicht nur um diese Geschichten ist die heimische Sportszene nun ärmer, auch um eine Person, die ein Journalisten-Kollege einmal mit »in Wirklichkeit ist der böse Mr. Hyde doch der gute Dr. Jekyll« beschrieb.

Dem Trainervirtuosen war in den Jahren danach für einige Zeit der Klavier-Virtuose gefolgt, ehe es um ihn öffentlich etwas ruhiger, in den letzten Jahren - u. a. auch wegen seiner langwierigen Borreliose-Erkrankung - sogar leise wurde. Jetzt ist es ganz still um ihn geworden. Ruhe in Frieden, »Doc«!



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