Denn vorweg: Dass die Gießen 46ers im Jahr 55 seit Gründung der Basketball-Bundesliga und im dritten Corona-Jahr überhaupt noch zur höchsten deutschen Spielklasse zählen, ist eine Leistung, die es für sich zu würdigen gilt. Es bedarf wenig Fantasie, um sich Szenarien auszumalen, die dem Club im Verlauf der letzten Saisons den Boden unter den Füßen weggezogen hätten. Eins davon trat mit dem sportlichen Abstieg im Frühjahr beinahe ein. Rolf Scholz hatte im Dezember eine Mannschaft ohne jedes Teamgefüge im Tabellenkeller übernommen. Er coachte zwar noch bemerkenswerte acht Siege aus dem im Sommer 2020 planlos zusammengestellten Kader. Die hinterlassene Hypothek aber erwies sich als zu groß.
Status quo: Mit einem finanziellen Kraftakt wurde im Mai eine Wildcard erkauft (erste Rate 350 000 Euro, bei Klassenererhalt wird eine weitere mit derselben Summe für das nächste Jahr fällig), die den Ligaerhalt sicherte. ProA-Meister Leverkusen hatte auf den Aufstieg verzichtet. In den Folgemonaten machten die 46ers prinzipiell genau das Gegenteil von dem, was den Sommer zuvor ausgezeichnet hatte. Neu-Manager Sebastian Schmidt und Neu-Trainer Pete Strobl stellten in Windeseile eine Mannschaft zusammen, die für harte Verteidigung und teamorientierten Basketball stehen soll. Bereits Anfang August stieg der runderneuerte Kader in die Vorbereitung ein. Lohn für die Mühe waren erste Erfolgserlebnisse gleich zu deren Beginn.
Doch schnell zogen sich quasi alle potenziellen Leistungsträger (John Bryant, Brayon Blake, Kendale McCullum etc.) mehr oder weniger hartnäckige Verletzungen zu. Besonders hart erwischte es McCullum, der sich beim Test in Paderborn an der Schulter verletzte und noch nicht aufs Parkett zurückkehrte. »Diese Vorbereitung war alles andere als optimal«, gesteht Strobl. Denn auch wenn die meisten Akteure langsam wieder einsatzfähig werden, gilt es, Trainingsrückstände aufzuholen. »Jammern über die Verletzungen bringt nichts, ist für die Hinterköpfe der Spieler aber eine schwere Situation«, so der 46ers-Coach weiter.
Kommen/Gehen: Mit Bjarne Kraushaar, Tim Uhlemann und Bryant blieb nur ein Minigerüst der Vorsaison in Mittelhessen. McCullum gilt als harter Verteidiger, Blake wird die Offensive beleben müssen. Kyan Anderson verfügt bereits über Bundesligaerfahrung (Göttingen, Bayreuth) und soll vorne als Spielmacher Regie führen. Aus der Kategorie »jung und deutsch« wurden Kilian Binapfl (Rhöndorf) und Maximilian Begue (Frankfurt) an die Lahn gelotst. Für Erfahrung sorgt Florian Koch: Der 29-Jährige kommt aus Würzburg und überzeugte in der Vorbereitung.
Das Kapitänsamt bekleidet neben Bryant Dennis Nawrocki, der zuvor in der ProA bei Jena unter Vertrag stand. Die US-Spots besetzen des Weiteren Highflyer Nuni Omot, der aus Polen kam, und Philipp Fayne II (vorher Finnland). Den verletzungsgebeutelten Trainingskader füllt Rawle Alkins (Try-Out-Vertrag), der 2018/19 kurzzeitig für die Chicago Bulls in der NBA auflief. Ligaintern zog es Alen Pjanic nach Oldenburg, Scottie James jr. nach Ludwigsburg.
Fanrückkehr: Dank der 2G-Regelung (nur geimpfte oder genesene Personen bekommen Zutritt) können die 46ers ohne Kapazitätsgrenze Zuschauer in die Halle lassen. Auch die Maskenpflicht am Platz entfällt. Spannend zu sehen sein wird, wie hoch die Resonanz am Ende wirklich ausfällt. Der Verein hat aus der unsteten letzten Saison gelernt und sich keine feste Zielmarke an Tickets gesetzt.
»Da muss man einfach realistisch sein und mit offenen Augen durchs Leben gehen, nicht nur in Mittelhessen, sondern auch bei Freiluftveranstaltungen wie in Frankfurt«, zieht Schmidt Vergleiche zur HSG Wetzlar und der Eintracht, die ihre Spielstätten nicht wie früher gefüllt kriegen. Würde sich die Auslastung bei zwei- bis zweieinhalbtausend pro Spiel einpendeln, »wäre das eine vernünftige Größe«, so Geschäftsführe und Sportdirektor Schmidt weiter.
Dafür sei es wichtig, ein neues Sicherheitsgefühl bei den Zuschauern zu gewinnen. Tatsächlich kann niemand abschätzen, wie sich das Kons-trukt Profisport nach eineinhalb Jahren der Zwangspause entwickeln wird - weit über Gießen und auch den Basketball hinaus.
Schlüsselspieler: Hier gibt es viele Blickwinkel. Anderson kann ein Team führen, muss aber sein Scorer-Gen finden. Bryant ist auf dem Papier nach wie vor einer der besten Center der Liga. McCullum hat das Potenzial zum Edelverteidiger. Blake wird als erfahrener Leader vorangehen müssen, hat aber verletzungsbedingte Rückstände. »Er wird seinen Rhythmus finden«, ist sich Strobl aber sicher.
Umfeld und Problemzonen: Neben dem Team wurde auch das Personal der Geschäftsstelle fast komplett runderneuert. Die Infrastruktur ist nach wie vor größte Baustelle des Clubs, der ohne Trainingszentrum und mit einer 52-jährigen Halle auskommen muss: Alles nicht neu, deshalb aber nicht weniger problematisch.
Trainer, Spielstil, Prognose: Charakter vor Talent: Strobls defensivorientierter Stil fand bei den Fans Anklang. Die Run-and-Gun-Philosophie seines Vorgängers Ingo Freyer soll der Vergangenheit angehören. In Braunschweig hatte Strobl einige Anlaufzeit gebraucht, bevor dies im Vorjahr aufging. Sechs Siege, am Ende katapultierten die Löwen auf Rang neun. In Gießen hat Strobl es mit einem schwächeren Kader zu tun. In der Vorbereitung gab es viele Niederlagen zu beklagen. Der Kampf um den Klassenerhalt wird am Ende aber glücken.
Dort konkurrieren die 46ers voraussichtlich mit Heidelberg und dem MBC, gegen die es bereits am dritten und fünften Spieltag geht. Das restliche Auftaktprogramm ist mit Bayreuth, Bayern München und Bamberg knüppelhart. Trotz aller nötigen Geduld wird es darauf ankommen, hier nicht mit komplett leeren Händen zu starten. Hoffnung ruht auf dem Faktor Heimvorteil und der Wiederbelebung der Sport- »Hölle« Ost, wie es Strobl formuliert: »Wir sind begeistert, wieder vor vollen Rängen zu spielen. Wir wollen den Fans ein Geschenk geben und sie sehen lassen, dass wir alles geben und mit allem kämpfen, was wir zur Verfügung haben.«