Am letzten Tag ihrer traumhaften Frankreichreise hat Megan Rapinoe einen letzten Blick auf den goldenen Altar und die Jesus-Statue werfen können, die den Gästen im »Hotel Fourvière« beim Auschecken begegnen, wenn ihre Schlüssel in bunten Kästen verschwinden. Auf dem gleichnamigen Hügel von Lyon hat der Baumeister Pierre Bossan im 19. Jahrhundert nicht nur die prächtige Notre-Dame, sondern auch jene prunkvolle Residenz erschaffen, von der die US-amerikanische Frauen-Nationalmannschaft als alter und neuer Weltmeister am Montag die Rückreise nach New York angetreten hat. Wie der französische Architekt mit seinen Bauwerken, hat auch die amerikanische Fußballerin mit ihren Statements in Lyon ein Vermächtnis hinterlassen.
»Unser Team ist gerade mittendrin, die Welt um sich herum zu verändern. Das ist ein großartiges Gefühl«, sagte die 34-Jährige. Noch bevor die Siegerehrung startete, brüllte ein Großteil der 57 900 Zuschauer im Stade de Lyon lautstark »equal pay, equal pay«. Das massenhafte Verlangen nach gleicher Bezahlung von Männern und Frauen diente als finaler Beleg, dass die Spielführerin der USA nach dem Endspiel gegen die Niederlande (2:0) mehr gewonnen hatte als den Goldpokal, den Goldenen Ball als beste Spielerin und den Goldenen Schuh als beste Torschützin. Gleichberechtigung bedeutet ihr mehr als jede Auszeichnung. »Jeder ist bereit für das Gespräch über die Gleichstellung der Frau, um die nächsten Schritte zu machen«, erklärte Rapinoe, die um Unterstützung für »Frauenprogramme auf der ganzen Welt« bat. Denn: »Jede Spielerin bei dieser WM hat die unglaublichste Show gezeigt, die man sich jemals wünschen konnte. Es ist Zeit, das Gespräch voranzutreiben.« Sie will jetzt Konversation statt Konfrontation.
Der amerikanische Fußballverband (USSF) hat trotz der ausstehenden Klage seiner Frauen gegen die schlechtere Bezahlung die Vorkämpferin nie versteckt. Pressechef Aaron Heifetz klatschte die Protagonistin für den »wandelnden Protest« (Rapinoe) am Ende sogar ab, wenn sie ihre Botschaften platziert hatte. War das Team USA irgendwann mal als eigener Planet bezeichnet worden, dann stieg die Aktivistin vom linken Flügel zum lila Fixstern auf. Die mit der Basketballspielerin Sue Bird zusammenlebende Flügelspielerin übernahm die Deutungshoheit von der mit dem Fußballer Servando Carrasco verheirateten Mittelstürmerin Alex Morgan, die gerne mit ihren Reizen spielt. Nach dem Finalsieg twitterte Rapinoe zu einem Bild mit Ersatztorhüterin Ashlyn Harris und der ehemaligen Bundesligaspielerin Alex Krieger: »Wissenschaft ist Wissenschaft. Homosexuelle regieren.«
Noch nie ist es bei einer Fußball-Weltmeisterschaft einem Mann oder einer Frau gelungen, sportliche, gesellschaftliche und politische Statements derart kraftvoll zu verknüpfen. Und sie hat auf ihre Art sowohl den US-Präsidenten Donald Trump als auch den FIFA-Präsidenten Gianni Infantino ausgedribbelt. Als Trump die Ikone attackierte, weil sie nicht in das »fucking« Weiße Haus gehen wolle, bedauerte sie nur den Kraftausdruck. Wegen ihrer Mutter. Als Infantino tönte, endlich viel Geld für die Förderung des Frauenfußballs in die Hand zu nehmen und das Preisgeld zu verdoppeln, rechnete sie vor, dass die Lücke zu den Männern nur noch größer wird. Trump konnte nach dem vierten Stern gar nicht anders, als dem US-Team zu gratulieren (»Amerika ist stolz auf euch alle!«); Infantino hatte zuvor beigegeben (»Jede Spielerin ist frei«), obwohl der Weltverband eigentlich keine politischen Meinungsäußerungen der Akteure duldet.
Die 158-fache Nationalspielerin hätte nicht so viel Aufmerksamkeit erzeugt, wenn sie auf dem Platz den Worten keine Taten hätte folgen lassen. Während die »Queen« Morgan abtauchte, verwandelte die »Fighterin« Rapinoe im Achtelfinale gegen Spanien (2:1) zwei Elfmeter, zog die Mannschaft mit einem Doppelpack gegen Frankreich (2:1) durchs Viertelfinale. Irgendwann bewegte sie sich derart traumwandlerisch sicher auf dem Hochseil durch die WM, dass für niemanden mehr Absturzgefahr bestand. Ohne die angeschlagene Anführerin riefen ihre Kolleginnen im Halbfinale gegen England (2:1) sogar die beste Leistung ab.
Rapinoe kehrte wie selbstverständlich zum Finale zurück, das sie als »Spielerin des Spiels« entließ. Frank Hellmann