Keine Ruhe in Dannenrod: Zwar hatten Kirchenvertreter nach den Rodungsarbeiten am Volkstrauertag um Einhalten der Feiertagsruhe gebeten, aber ohne Erfolg. Insbesondere die Gedenkveranstaltungen auf Friedhöfen rund um das Waldgebiet waren beeinträchtigt. Ein Polizeihubschrauber kreiste stundenlang über dem Gebiet. War er mal gelandet, hörte man die Trommeln der A 49-Gegner in Dannenrod. Die DEGES ließ viele Lastwagen mit Schotter anfahren, die Polizei sah sich dabei zum Schutz der Kolonnen durch Ober-Ofleiden, Homberg und Appenrod veranlasst. Die Kirche appelliert - vergebens. Was macht das mit den betroffenen Bürgern? Einordnungen dazu von Ralf Müller vom evangelischen Dekanat Vogelsbergkreis,
? Wie werden die Auseinandersetzungen der vergangenen Tage wahrgenommen?
»Ich empfinde schon eine Steigerung«, berichtet Müller. »Die Abstürze, die es von Bäumen und Konstruktionen gibt, führen zu Frust bei den Aktivisten. Die Waldbesetzer glauben, sichere Konstruktionen zu haben, die sie auch tagtäglich kontrollieren. Wenn es dann gleichwohl zu Abstürzen kommt, dann sehen sich die Erbauer nicht als Auslöser der Unfälle.« Es bleibe dann nur der Eindruck, dass die Polizei das Leben der Aktivisten gefährdet. Dieser Frust könne zu Eskalationen führen, weil man die Polizei noch mehr als Gegner wahrnehme.
? Gibt es viele gewaltbereite Gegner des Autobahnausbaues?
In zwei Fällen hat Ralf Müller die Polizei informiert, dass es Gewalttäter im Rodungsgebiet gebe. »Die wollen Verletzte sehen«, berichtet Müller. Vielleicht zehn bis 15 Prozent der Aktivisten seien »krawallig«. Auf diesen Personenkreis seien wohl auch die gezielten Angriffe auf Polizisten zurückzuführen, etwa durch angespitzte Eisenstäbe im Boden. Der überwiegende Teil der 18- bis 25-jährigen Protestler sei nicht gewalttätig. »Die bemerken, dass »Fridays for Future« nichts bringt, und deshalb steigen sie auf die Bäume«. Diese Aktivisten ließen sich »überwiegend widerstandslos aus den Bäumen pflücken, auch wenn sie sich schwer machen«, hat Müller beobachtet.
? Wie reagiert die heimische Bevölkerung?
»Die Ortsbewohner sind durch die lang anhaltende Lage mit Polizei und Aktivisten schlicht ausgelaugt, das Dorf kommt nicht mehr zur Ruhe«, sagt Müller. Es sei ein Empfinden der weiteren Eskalation. Im Homberger Raum könne man das Haus nicht mehr ohne Personalausweis verlassen, denn es gebe viele Verdachtskontrollen durch die Polizei. »So einen massiven Einsatz hat der Vogelsbergkreis wohl noch nie gesehen«, nimmt Müller an. Jedenfalls habe er im Raum Homberg, wo er wohnt, eine Polizeipräsenz in größerem Ausmaß vorher noch nie wahrgenommen. Das überfordere auch die Bevölkerung, es gebe keine Ruhezeiten mehr.
? Am Volkstrauertag war noch gerodet worden, am Totensonntag nicht. War es ruhiger?
»Am Totensonntag fuhren im Minutentakt die Laster für den Schottertransport von der MHI über Ober-Ofleiden und Appenrod zum Dannenröder Wald«, berichtet Müller. Über allem sei immer wieder ein Polizeihubschrauber gekreist, sodass die Reden und Musikstücke bei den Gedenkfeiern auf den Friedhöfen im allgegenwärtigen Lärmteppich untergingen. »Wenn der Hubschrauber landete, hörte man die Trommeln der Aktivisten aus dem Wald«, berichtet Müller. Auch Prädikant Martin Reibeling habe von erheblichen Lärmbelästigungen bei Gedenkfeiern in Lehrbach und Erbenhausen berichtet. »Das war ein Krach, dass man nichts mehr verstehe konnte.«
? Gibt es auch Verständnis für die staatlichen Eingriffe am Ewigkeitssonntag?
»Die Trauer ist massiv gestört worden«, konstatiert Müller, auch wenn es keine Rodungen wie am Volkstrauertag gegeben habe. Es habe die Bevölkerung sehr stark verstört, dass ein gesetzlich verordneter ruhiger Tag so abgelaufen sei. Das Verständnis dafür gehe gegen null. Wahrgenommen werde, dass der Staat seine eigenen Gesetze übertrete. Ein Wegebau müsse nicht sonntags sein. Seine Sorge ist: »Fehlende Ruhe führt zu fehlender Besonnenheit.«
? Bei aller Aufregung, man kann ja wohl zwischen zwei verschiedenen Protestgruppen unterscheiden.
»Ja, es gibt zwei Demonstrantengruppen«, bestätigt Müller. »Es gibt den bürgerschaftlichen Protest, dem das Aktionsbündnis gegen die A 49 zuzurechnen ist. Denen geht es auch um Klima und Verkehrswende, aber bei denen haben die regionalen Fragen Priorität. Die zugereisten Aktivisten kennen sich hingegen hier nicht aus. Denen geht es um die große Klima- und Verkehrspolitik. Wäre die strittige Autobahn woanders, würden sie dort sitzen.«
? In welcher Weise tritt die evangelische Kirche vor Ort auf?
Die Kirche hat ein rund 30 Personen starkes Team, von dem täglich vier bis sechs Leute im Wald sind. Sie sind analog der Presse akkreditiert, sind kenntlich durch gelbe Westen und blaue Helme. Sie beobachten und dokumentieren. Wir haben dazu Informationen auf unserer Homepage und geben auch Informationen an die Landeskirche weiter. Die kann auf dieser Basis gegebenenfalls Kontakt zur Landesregierung aufnehmen.
? Am Sonntag soll es einen Übergriff auf eine Beobachterin der evangelischen Kirche durch die Polizei gegeben haben.
»Ja, eine Beobachterin war wohl zur falschen Zeit am falschen Ort«, berichtet Müller. Ihr sei ein Polizeitrupp von 40 bis 60 Personen entgegengekommen, sie sei umgeworfen und liegen gelassen worden. Passanten hätten sie zur Mahnwache gebracht, wo sie der Camp-Arzt untersucht habe. Sie sei dann noch zum Bereitschaftsdienst gebracht worden und am Montag habe eine Unfallärztin Prellungen, blaue Flecken sowie Schmerzen in Hals und Wirbelsäule festgestellt. Die Beobachterin sei für eine Woche krankgeschrieben. »Die Frau war sicher als Beobachterin der Kirche gekennzeichnet, aber die ständig wechselnden Hundertschaften wissen das offenbar nicht immer«, beklagt Müller. Er hat gegenüber der Polizei Anweisungen an die Beamten eingefordert. Außerdem hat er selbst im Wald Beobachtungen gemacht, die er als »teilweise verstörendes Verhalten bei der Polizei« bezeichnet. So habe er beobachtet, dass ein Aktivist zwischen zwei Halterungen in einem Schlafsack hing. Ein Polizist habe immer wieder gegen die Halterung getreten, das könne er nicht verstehen. Dieser Vorfall sei in einem Video dokumentiert.
? Das Vorhaben A 49 ist jahrzehntealt, der massive Protest eher jung. Waren Kirchengemeinden schon immer gegen den Autobahnbau in der Region?
Das lässt sich am Beispiel der Kirchengemeinde Homberg und weiterer Dörfer erklären, die vom Pfarrerehepaar Brigitte und Werner Schrag seit rund drei Jahrzehnten betreut werden. So gab es bereits vor vielen Jahren die Positionierung eines Kirchenvorstandes gegen die A 49. Kürzlich wurde das Thema im Gremium neu besprochen und der alte Beschluss bekräftigt.
? Kann eine Kirchengemeinde Partei ergreifen für die eine oder andere Gruppierung vor Ort?
Nein, die Kirche nimmt eine offene Position ein, »damit alle Seiten mitgenommen werden«, wie es Brigitte Schrag ausdrückt. Ihr liegt vor allem ein respektvoller Umgang miteinander am Herzen.