07. Dezember 2018, 11:00 Uhr

Raubüberfall

Überfall in Gießen: Die Angst der Opfer bleibt

Wenige Minuten dauerte der spektakuläre Raubüberfall auf den Juwelier im Seltersweg Ende Juni. Verarbeitet haben die mit einer Waffe bedrohten Zeugen das Geschehen noch lange nicht.
07. Dezember 2018, 11:00 Uhr
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Von Kays Al-Khanak
Die Menschentraube vor dem Juweliergeschäft hatte sich bereits während des Überfalls gebildet. (Foto: Archiv)

Noch bevor die junge Frau den Gerichtssaal betreten hatte, verlor sie ihre Fassung. Die 27-Jährige saß auf der Wartebank vor Saal 207 des Gießener Landgerichts, und die Tränen wollten gar nicht mehr aufhören, ihre Wangen hinabzufließen. Als sie hereingerufen wurde in diesen großen Raum, in dem die Zuschauer durch eine Panzerglasscheibe von den Prozessteilnehmern getrennt sind, da sackte sie noch ein kleines Stück weiter in sich zusammen. Es war ein schwerer Gang: Sie sollte dem Gericht berichten, wie sie den Überfall Ende Juni diesen Jahres auf das Juweliergeschäft am Seltersweg bei den drei Schwätzern erlebt hatte.

Beim Auftakt des Prozesses Ende November hatten die vier Angeklagten über ihre Anwälte Einlassungen – also Stellungnahmen – abgegeben. Dort ließen sie mitteilen, dass sie den Überfall auf den Juwelierladen auf dem Seltersweg verübt hatten. Ihr Motive: Horrende Spielschulden und Drohungen vonseiten ihrer Gläubiger. Bei den Männern handelt es sich um drei serbische Studienabbrecher und einen montenegrinischen Gelegenheitskellner im Alter von 33 bis 38 Jahren. Der Verhandlung folgten sie interessiert, aber meist ohne Regung.

Der Überfall dauerte nur wenige Minuten. Doch für die Zeugen ist er noch lange nicht aufgearbeitet. Als der beisitzende Richter Dr. Andreas Balzer die 27-jährige Angestellte des Juwelierladens nach dem Schmuck fragte, den die Räuber erbeuten wollten, sagte sie: »Das Problem ist nicht die Ware, sondern der Mensch. Was ich erlebt habe, kommt immer wieder hoch. Ich habe nachts Schlafstörungen und bin anfangs oft zusammengezuckt, wenn eine Tür zugeknallt ist.«

Das war sehr gefährlich, sogar relativ dumm

Richter Klaus Bergmann

Die junge Frau erzählte, sie habe gegen 10 Uhr zusammen mit ihrem Cousin, der ebenfalls Schmuckverkäufer ist, den Laden aufgeschlossen, dann das Schaufenster dekoriert und mit einer Kundin gesprochen – Alltag eben. Ihr Bruder, ebenfalls Mitarbeiter im Geschäft, habe mit seinem zweieinhalbjährigen Sohn gegenüber in einem Café gesessen. Plötzlich seien die vier Männer gegen 11 Uhr in den Laden gestürmt, in einer fremden Sprache brüllend, maskiert, bewaffnet. Drei von ihnen seien nach oben gerannt, um Schmuck einzupacken, der Vierte habe mit der Waffe vor ihr, ihrem Cousin und den beiden Kundinnen gefuchtelt. Ohne zu überlegen, habe sie den Alarmknopf gedrückt. Erst dann sei ihr klar geworden, was eigentlich los sei. »Ich wollte nach meinem Bruder schreien, aber dann kam zuerst nichts raus. Danach habe ich alles gegeben, was ging, und geschrien.« Die Augen habe sie fest zusammengepresst, »weil ich nichts sehen wollte«.

Ihr Bruder, 34 Jahre alt, groß, kräftig, breite Schultern, sagte bei seiner Aussage, er habe die Schreie seiner Schwester gehört. Ohne nachzudenken sei er ins Geschäft gerannt, habe den bewaffneten Räuber umgestoßen, die Mitarbeiter und Kunden rausgeschickt und dann von Außen mit anderen Passanten die Tür zugehalten. »Das war sehr gefährlich, sogar relativ dumm«, sagte der Vorsitzende Richter Dr. Klaus Bergmann, der die Verhandlung mit Empathie und mit einem Augenzwinkern an den passenden Stellen leitete. »Ja«, antwortete der Juwelier, »aber wenn jemand Ihre kleine Schwester bedrohen würde, was würden Sie machen?«

Doch auch an ihm, dem großen Bruder, ist der Überfall nicht spurlos vorbeigegangen. Pause mache er nicht mehr, sagte er. »Ich traue mich nicht mehr aus dem Laden, lasse meine Mitarbeiter nicht mehr alleine.« Auch am Tag der Verhandlung blieb das Juweliergeschäft bis Mittag geschlossen. Auf einem Zettel an der Tür war zu lesen: »Aus betriebsbedingten Gründen«.

Zusatzinfo

Was die Polizei aussagt

Der Vorsitzende Richter Klaus Bergmann schaute den Polizeikommissar lange an. Dann sagte er: »Sie sind zu zweit in das Geschäft rein, obwohl sie wussten, dass da mindestens vier Räuber mit Waffen drin waren. War das nicht leichtsinnig?« Der Beamte konnte nicht widersprechen. Sein Kollege und er hätten keine Wahl gehabt: »Es standen viele Passanten im Eingangsbereich des Ladens«, sagte der 34-Jährige. Es habe unmittelbar Gefahr für sie bestanden. Als die Räuber aus dem ersten Stock nach unten gekommen seien, hätten die Männer ihre Schusswaffen einsetzen können. »Das konnten wir nicht zulassen.«



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