Am Fenster ihres Büros im Interdisziplinären Forschungszentrum steht ein Laufband, davor ein erhöhter Arbeitstisch. Im zügigen Gehen liest Katja Becker, telefoniert oder beantwortet E-Mails, erzählt sie den staunenden Besuchern. »Es macht einen Unterschied, ob man jeden Tag zwölf Stunden sitzt - oder zehn Stunden sitzt und zwei Stunden läuft.« Demnächst zieht das Laufband um nach Bonn. Die renommierte Professorin für Biochemie und Molekularbiologie der Justus-Liebig-Universität wurde als erste Frau an die Spitze der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewählt. Sie tritt ihr Amt Anfang des nächsten Jahres an.
Frau Becker, warum wollten Sie DFG-Präsidentin werden?
Katja Becker: Für dieses Amt bewirbt man sich nicht selbst. Man wird nominiert nach einem Auswahlprozess, der über ein Jahr dauert. Über diese Nominierung und das Vertrauen habe ich mich sehr gefreut. Die DFG steht für hochwertige Forschung, für Nachwuchsförderung, für die Freiheit der Forschung. Dies sind hohe Werte, gerade in unseren Zeiten. Die aktuellen globalen Probleme kann man meiner Meinung nach nur durch neue Forschungsansätze lösen. Nehmen Sie das Thema Populismus: Man begegnet in vielen Ländern zunehmend wissenschaftsfeindlichen Tendenzen. Kombinieren Sie das mit Ressourcenknappheit, Klimawandel, gewalttätigen Auseinandersetzungen, Flüchtlingsströmen. Diese Konstellationen erreichen einen Grad an Bedeutung und Komplexität, dem wir nur mit interdisziplinärer Forschung gerecht werden können und mit wirklicher internationaler Zusammenarbeit, bei der alle an einem Strang ziehen. Ich freue mich daher sehr, bei der DFG gleich mit einem Jubiläumsjahr starten zu dürfen. Die DFG feiert 2020 nämlich anlässlich der Gründung ihrer Vorgängerorganisation vor 100 Jahren das Prinzip der freien und unabhängigen Wissenschaft. Das Motto finde ich sehr schön: »Für das Wissen entscheiden.« Nicht für Fake News.
Was sind Ihre wichtigsten Pläne für Ihre vierjährige Amtszeit? Worauf freuen Sie sich?
Becker: Ich freue mich besonders auf die Zusammenarbeit mit den fast 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern allein in der Geschäftsstelle in Bonn, dazu kommen mehrere Büros in Berlin und im Ausland - und dazu mit unseren Partnern aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Ich sehe dem Amt mit Respekt entgegen, aber auch mit Enthusiasmus und Tatendrang. Für programmatische Aussagen ist es noch etwas zu früh. Auf jeden Fall werde ich mich einsetzen für Kommunikation, Internationalisierung und das Einbeziehen jüngerer Generationen in Entscheidungsprozesse. Bei den immer kürzer werdenden Innovationszyklen, denken Sie an Themen wie künstliche Intelligenz, werden auch unsere erfolgreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer jünger.
Haben Sie mit der Wahl gerechnet? Es war die Rede von einem »Old-Boys-Netzwerk« und davon, dass Sie von der Kritik daran profitiert haben könnten.
Becker: Rechnen kann man mit so einer Entscheidung nicht. Wir hatten drei sehr gute Kandidaten, und ich habe mich gefreut, dass die Mitglieder eine echte Wahlmöglichkeit hatten. Meine Kandidatur wurde vielleicht durch meine fünfjährige Erfahrung als DFG-Vizepräsidentin unterstützt sowie durch mein medizinisch-lebenswissenschaftliches Profil; auch war ich die einzige Kandidatin aus einer Universität; und manche haben sich eine Frau gewünscht.
Spielt es in Ihren eigenen Augen eine Rolle, dass Sie die erste Frau auf diesem Posten sind?
Becker: Ich finde, wir sollten in Bezug auf Gleichstellung endlich zu einer Kultur der Selbstverständlichkeit kommen. Die meisten Menschen möchten nach ihrer Leistung beurteilt werden. Wir wissen, dass gemischte Teams einfach besser funktionieren, von dieser Qualitätssteigerung sollte auch die Wissenschaft profitieren. Daher ist es natürlich schon ein Signal - wenn man sich die fünf großen Wissenschaftsorganisationen in Deutschland ansieht und die Tatsache, dass dort noch nie eine Frau an der Spitze war. Ich hoffe, dies ist auch eine Bestätigung und Motivation für die vielen Wissenschaftlerinnen in unserem Land.
Schon als erste JLU-Vizepräsidentin waren Sie 2009 ja eine Pionierin. Und Sie haben eine Tochter großgezogen. Welchen Rat geben Sie Frauen, die Karriere machen wollen?
Becker: Ganz wichtig ist es, genau hinzuschauen, was einem Freude macht. Um Erfolg zu haben - egal in welchem Beruf -, muss man viel arbeiten, und das kann man besser, wenn es Spaß macht. Ich würde sagen: Go for it! Probiert es, dann tun sich meistens viele Möglichkeiten auf.
Auch mit Familie?
Becker: Gerade mit Familie! Ich wünsche jeder Frau, die das möchte, Kinder haben zu können, weil ich persönlich daraus sehr viel Kraft schöpfe. Ein Kind aufwachsen zu sehen ist das Schönste auf der Welt und hat mich tief inspiriert - übrigens auch für meine wissenschaftliche Tätigkeit und das Engagement für die Zukunft. Beruf und Familie zu verbinden ist heute in gewisser Hinsicht leichter als früher. Aber nur, wenn man die Unterstützungsmöglichkeiten von Gesellschaft, Wissenschaftssystem und Partnern aktiv wahrnimmt. Frauen sagen oft: Das schaffe ich schon irgendwie. Dann merken sie, dass sie mitten in der Nacht noch die Küche putzen. Bei meinen Doktorandinnen erlebe ich, dass die Väter inzwischen viel selbstverständlicher einbezogen sind. Das ist letztlich für alle sehr bereichernd.
Bedeutet Ihr neues Amt den Abschied aus Gießen?
Becker: Ich muss meine wissenschaftliche Tätigkeit natürlich deutlich reduzieren. Die DFG-Präsidentschaft ist ein Hauptamt, dem möchte ich mich mit ganzer Kraft widmen. Ich will aber auf jeden Fall die Hand am Puls der Wissenschaft behalten. Ich werde im Kontakt mit meiner Arbeitsgruppe und meinen Kolleginnen und Kollegen bleiben und regelmäßig in Gießen sein. Meine Doktorandinnen werde ich natürlich zu Ende betreuen.
Wie wird Ihr Fehlen an der JLU aufgefangen?
Becker: Wir sind gerade dabei, gute Übergangs- und Vertretungsregelungen zu erarbeiten - sowohl für meine Professur als auch für das LOEWE-Zentrum »DRUID«. Dabei habe ich viel Unterstützung und Rückendeckung, wofür ich sehr dankbar bin.
Was bedeutet Ihnen Gießen?
Becker: Durch meine Arbeit bin ich seit fast 20 Jahren in Gießen verankert. Meine Tochter ist hier großgeworden, meine Mutter lebt hier. Daher wird sich der Mittelpunkt meines privaten Lebens auch weiterhin im Raum Gießen befinden.
Naturwissenschaftliche Forschung und Wissenschaftspolitik - was reizt Sie persönlich an diesen ganz unterschiedlichen Tätigkeitsgebieten? Oder sind sie vielleicht gar nicht so unterschiedlich?
Becker: Als junge Ärztin habe ich in Afrika und Australien gearbeitet. Dies hat in mir den starken Wunsch geweckt, die Bedingungen von Patienten in Ländern des Südens zu verbessern. Ich stand vor der Frage: Will ich vor Ort arbeiten, zum Beispiel in Afrika - oder forschen, darüber sprechen, irgendwann wissenschaftspolitisch tätig sein? Mit dem Angebot einer Habilitationsstelle in der medizinischen Biochemie der Universität Heidelberg fiel dann die Entscheidung - und so entwickeln wir nun neue Wirkstoffe gegen tropische Infektionskrankheiten. Durch die Möglichkeit, nun auch verstärkt wissenschaftspolitisch aktiv zu sein, schließt sich für mich gewissermaßen ein Kreis. Die Wissenschaft, und damit auch die DFG, greifen ja Themen von gesellschaftlicher Relevanz auf und müssen der Politik fundierte Lösungsmöglichkeiten anbieten. Dies sehe ich als wichtige Aufgabe - und Chance.
Mit Professor Mukherjee rückt ja ein weiterer JLU-Vertreter an die Spitze einer bedeutenden Wissenschaftsorganisation, nämlich des Deutschen Akademischen Austausch-Dienstes. Kann man von einem besonders kurzen Draht sprechen, der damit entsteht?
Becker: Es gibt traditionell gute Beziehungen zwischen der DFG und dem DAAD. Dadurch, dass Herr Mukherjee und ich einige Jahre im Präsidium der Universität zusammengearbeitet haben, wird diese Kommunikation natürlich weiter erleichtert. Dies kann für die wissenschaftliche Landschaft in Deutschland Vorteile haben, gerade auch im internationalen Auftreten.
Kann Gießen und speziell die JLU von diesem Umstand profitieren? Oder könnte er sogar zum Nachteil werden, weil man den Eindruck der Bevorzugung der eigenen Hochschule vermeiden muss?
Becker: Die DFG hat zum Glück ein sehr striktes System der Qualitätssicherung, das lässt eine Bevorzugung gar nicht zu. Die Präsidentin entscheidet ja nicht über Anträge. Gleichwohl könnten die Stadt und die Universität Gießen durch die Besetzung der beiden Ämter etwas mehr Aufmerksamkeit erhalten, zum Beispiel durch die eine oder andere Veranstaltung, die in Zukunft vielleicht hier abgehalten wird. (Foto: pm/D. Plas)