Carsten Stahl erzählt von einem dicken rothaarigen Jungen, der geschlagen, getreten, in eine Grube geschubst und angepinkelt wird. Der Junge habe Angst und mit gerade einmal zehn Jahren Selbstmordgedanken. »Seht ihr ihn vor euch? Könnt ihr euch vorstellen, wie er sich fühlt?«, fragt Stahl. »Dieser kleine, unscheinbare Junge, das war ich.« Die Schüler der Clemens-Brentano-Europaschule, die vor Beginn des Anti-Mobbing-Seminars noch fröhlich durch die Flure tobten, sind plötzlich still. Der große muskulöse TV-Star aus »Privatdetektive im Einsatz« ein Mobbing-Opfer? Ja. Es dauert nur wenige Minuten, da beginnen die Jugendlichen, ihm zu vertrauen. So viel ist klar: Stahl ist einer von ihnen.
Seit 2014 setzt Carsten Stahl sich mit seinem Seminar »Camp Stahl« dafür ein, den Themen (Cyber-)Mobbing, Gewalt, Drogen, Kriminalität, Hass und Vorurteilen bei Jugendlichen entgegenzuwirken. Dabei steht auch die Wertevermittlung von Respekt, Mut und Toleranz auf der Tagesordnung.
Mit lauter Stimme berichtet Stahl, wie er vom Opfer zum Mittäter und Täter wurde und schließlich kriminell wurde – aber auch, wie er schlussendlich die Notbremse zog und einen anderen Weg einschlug.
Der Anti-Gewalt-Trainer aus Berlin-Neukölln ist ein Typ, der polarisiert. »Jeder Direktor, der sagt, an seiner Schule gebe es kein Mobbing, lügt.« In der CBES mit Direktor Andrej Keller indes geht man offen mit dem Thema um. Das Seminar für die Hauptschüler der Klassen 7 bis 10 wurde von Paul Römer (Mitarbeiter des Instituts für Berufs- und Sozialpädagogik) organisiert und vom Landkreis und dem Förderverein der Schule finanziert.
Mobbing sei nicht nur ein Problem der Hauptschulen, sondern beginne schon im Kindergarten, sagt Stahl. Gewaltprävention und Wertevermittlung sei unabdingbar, um das Übel an der Wurzel zu packen. Jeden zweiten Tag nehme sich in Deutschland ein Teenager das Leben. Jede Woche gebe es 500 000 Mobbing-Fälle an Schulen. »Mobbing gibt es überall«, sagte Stahl, der seine Seminare ab der 5. Klasse bis zu Berufsschulen, Firmen und Bundeswehr anbietet. »Lehrer werden für Mathe, Deutsch oder Biologie ausgebildet, aber nicht für die Vermittlung von Zivilcourage und die Prävention von Mobbing.« Während Stahl spricht, drücken sich die Gymnasiasten die Nase an der Scheibe der Aula platt.
18 Jahre lang sei er kriminell gewesen, sagt Stahl und ist gegenüber den Schülern offen und ehrlich. Er erzählt von »Regeln der Straße« und Feinden, die er sich gemacht hat, von Taten, die er bereut und Menschen, die er dadurch verloren hat. Der Wendepunkt sei die Geburt seines Sohnes gewesen.
Auch in den Pausen kleben die Jugendlichen an Stahls Versen, stehen mit verschränkten Armen nickend hinter ihm, während er zu Reportern und Lehrern spricht. Als er fragt, wer bereits Opfer von Mobbingangriffen wurde, gehen die Hände zunächst nur zögerlich hoch. »Du auch?«, fragt ein Junge mit entsetztem Blick den Sitznachbarn. Das Projekt verbindet und öffnet den Raum für Dinge, über die sonst niemand spricht.
Seit den Anfängen von »Camp Stahl« hat der ehemalige Fernseh-Detektiv vor rund 37 000 Schülern gesprochen. Anfragen kommen auch aus Österreich und der Schweiz. Über sein Leben und die Erfahrungen von Mobbing, Gewalt und Kriminalität schrieb er das im März erschienene Buch »Du Täter, du Opfer«. Heute arbeitet er unter anderem als Berater für Polizei und Politik.
Als besondere Ehre bezeichnet Stahl das Fußball-Bundesligaspiel zwischen Hannover 96 und Hertha BSC am 1. Dezember, das unter dem Thema »Anti-Mobbing« ausgetragen wird: Dann tragen die Spieler beider Klubs Stahls Logo auf der Brust. Gleichzeitig werden in und rund um das Stadion Aktionen veranstaltet, die ein Zeichen gegen Mobbing setzen sollen.
Carsten Stahl ist überzeugt: »Wenn du willst, dass sich etwas verändert, musst du laut fordern und nicht ›Bitte‹ sagen«.