Sie werden 1936 in der Kleinstadt Bautsch geboren, wohnen ganz in der Nähe voneinander und werden - wie das in einer Kleinstadt noch heute so ist - schon in Kindertagen Freundinnen. Sie besuchen sich, spielen miteinander und hecken den einen oder anderen Unfug aus. Doch das Idyll hält nicht lange: Im August 1946 werden Martha Steinmann und Sofie Helfert mit ihren Familien aus ihrer Heimat vertrieben. Denn Bautsch liegt im Sudetenland, das 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen worden war, nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg aber zurück an die damalige Tschechoslowakei fällt. 95 Prozent der rund 4000 Einwohner des heutigen Budišov nad Budišovkou im Osten Tschechiens werden vertrieben. Ein Ereignis, dass die damals jungen Mädchen bis heute prägt - sie aber auch zusammenschweißt.
»Wir konnten uns nicht beschweren«, sagt die heute 85-jährige Sofie Helfert, die in Alten-Buseck wohnt, wenn sie über das Leben im früheren Bautsch spricht. Ihre Eltern betrieben in der Kleinstadt eine Metzgerei, der Ort bot auch etwas Industrie, darunter eine große Zigarrenfabrik.
Doch dann kam der Krieg: Die Rote Armee treibt die deutsche Wehrmacht vor sich her, am 4. Mai 1945 wird Bautsch besetzt. »Wir haben die Stalinorgel (den russischen Raketenwerfer Katjuscha, Anm. d. Red.) schon Tage vorher gehört, es gab Bombenabwürfe und Gefechte«, erzählt Helfert, die damals neun Jahre alt ist. »Mein Vater, der bei der Wehrmacht war, hat immer gesagt, wir sollen in einem solchen Fall zu Hause bleiben. Mein Onkel hatte uns zwei Tage vorher noch Fleisch gebracht, doch das war schnell weg, denn kaum waren die Russen da, sind sie plündern gegangen. Sie waren schlecht versorgt, haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten.« Sie kann sich noch erinnern, als die Soldaten nachts in die Häuser eindrangen und sie durchsuchten.
Es ist der Anfang vom Ende einer idyllischen Kindheit: Die Männer des Ortes werden verhaftet und zu Arbeitseinsätzen gezwungen, das Vieh wird beschlagnahmt, Schulen und Geschäfte schließen - es herrscht Ausnahmezustand. »Irgendwann hat man dann gehört, dass die Deutschen weg sollen«, sagt Helfert - und so kam es: Am 14. August 1946 kommt die Mitteilung der Gemeinde: Jede Person soll 50 Kilogramm zusammenpacken und sich bereithalten. Mit Pferdefuhrwerken werden die Habseligkeiten zum Bürgerhaus gefahren, die Menschen müssen hinterherlaufen. »Im Bürgerhaus wurde auf der Bühne das Gepäck kontrolliert. Und die, die das gemacht haben, haben sich herausgenommen, was ihnen gefallen hat«, erzählt Helfert.
Martha Steinmann kann sich, obwohl sie genauso alt wie ihre Freundin ist, an die Ereignisse kaum noch erinnern - zu groß ist bei ihr das Trauma, durch die Vertreibung, vor allem aber durch die Begleitumstände: Ihr Vater wird verhaftet und im nach seiner Befreiung zu einem russischen Gefangenenlager umgerüsteten Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Der Grund: Man hält ihn für einen Nazi, weil er während einer Hausdurchsuchung bei seinem Nachbarn ist - und dort eine Waffe gefunden wird. Jahre später erhält ihre Mutter eine eidesstattliche Versicherung, dass ihr Mann mit vergifteter Marmelade getötet worden ist. »Ich sehe Bilder aus dieser Zeit und weiß, dass ich darauf zu sehen bin, aber ich kann mich einfach nicht erinnern«, sagt Steinmann. »Von der Zeit der Vertreibung weiß ich nur noch, dass meine Schwester unsere Sachen zusammenpacken musste, weil unsere Mutter so verzweifelt war. Sie hat gedroht, sich etwas anzutun.«
Flucht in das zerstörte Gießen
Nach der Gepäckkontrolle geht es mit einem Lastwagen weiter nach Bärn-Andersdorf (heute Ondrášov) in ein ehemaliges deutsches Lager. Nach ein paar Tagen geht es zu Fuß zum Bahnhof und dort in Viehwaggons, die abgeschlossen werden, damit niemand fliehen kann. Die hygienischen Zustände sind schlimm. Mit der Eisenbahn geht es in Richtung des heutigen Deutschlands. An der Sektorengrenze übernehmen amerikanische Soldaten den Zug, der schließlich nach Gießen fährt - den Ort, in dessen Nähe die beiden Frauen eine neue Heimat finden werden.
Der erste Anlaufpunkt ist das Hotel Lenz gegenüber dem Bahnhof, das zum Aufnahmelager umfunktioniert wurde. »Das Hotel war im Krieg etwas heruntergekommen«, erzählt Helfert. »In der Stadt selbst war alles kaputt, aber wir waren trotzdem froh, dorthin zu kommen und nicht etwa nach Sibirien gebracht worden zu sein.« Im großen Saal wird in Stockbetten geschlafen. Nach wenigen Tagen müssen die Familienvorstände ins Otto-Eger-Heim, wo noch mehr Vertriebene untergebracht sind. Hier werden Flüchtlingsausweise ausgestellt, und den Menschen wird die Entscheidung über ihre Verteilung im Landkreis mitgeteilt. Für Helferts fünfköpfige Familie (Vater, Mutter und drei Kinder) geht es nach Mainzlar. »Mit fünf Leuten wollte uns niemand«, erinnert sie sich. »Wir waren die Letzten, die dort standen, wo wir ausgeladen worden waren.« Schließlich muss der Bürgermeister ihnen ein Quartier bei einem Landwirt zuweisen.
Ärmliche Zustände in den ersten Jahren
Für Steinmann geht es mit ihrer Mutter und der älteren Schwester in den Grünberger Stadtteil Reinhardshain. Auch hier ist der Platz knapp, und die Vertriebenen sind nicht unbedingt willkommen. Ihre Mutter nimmt schließlich noch eine alleinstehende Frau auf, die sonst nirgendwo untergekommen ist. Zu viert teilen sie sich fortan ein Zimmer. »Die Frau kam zwar aus unserem Ort, aber sie war trotzdem eine Fremde«, sagt Steinmann. Doch sie findet schnell bei einer Familie Anschluss: »Ich war dort integriert. Auch insgesamt bin ich gut aufgenommen worden«, sagt sie.
Auch Steinmann kommt eigentlich aus einer gut situierten Familie. Ein Großvater betrieb eine Kaffeerösterei, der andere war Werkmeister in der Bautscher Zigarrenfabrik. »Ich weiß noch, dass er nie in die Kneipe, sondern immer ins Weinhaus ging«, erinnert sie sich. Mit einem Schlag ist all das weg. »Es war die pure Armut«, sagt Helfert. »Man bekam nur das, wofür es Lebensmittelmarken gab.« Noch heute erinnert sie sich an ihr erstes Weihnachten: Aus Brotmehl, Sirup, den sie bei den Nachbarn gekocht hatten, und Lebkuchengewürz, für das man Schlange stehen musste, backten sie Lebkuchen. »Die waren hart wie Backsteine und haben hundsmiserabel geschmeckt«, sagt Helfert. »Ich kann heute noch keine essen.«
Doch die Vertriebenen stecken nicht auf: Helfert und ihre Familie gehen nach Alten-Buseck, um dort eine Gastwirtschaft zu betreiben, und übernehmen einige Jahre später die Gaststätte »Zur Wetterau« im Bad Nauheimer Stadtteil Schwalheim. Steinmanns Mutter wird für die Schulspeisung in Reinhardshain verantwortlich, ihre Schwester findet eine Anstellung, sie selbst geht zur Schule.
Es herrscht wieder so etwas wie Normalität, die Integration schreitet voran. »Für uns Kinder war der Heimatverlust nicht so tragisch, zumal wir es von unseren Eltern schmackhaft gemacht bekamen. Sie wollten uns schließlich keine Angst machen«, sagt Helfert. »Aber sie hatten schon Heimweh, und die Verwandtschaft war nun überall verteilt.« Aber: »Die Erwachsenen haben sich gesagt: ›Wenn wir es jetzt nicht schaffen, sind wir verloren.‹ Also haben sie ohne Wenn und Aber gearbeitet. Sie mussten sich alles selbst erschaffen, zu erben gab es ja nichts mehr«, sagt Helfert.
Beide Frauen heiraten Mitte der 1950er Jahre - Steinmann verschlägt es nach Odenhausen in die Rabenau, Helfert zurück nach Alten-Buseck, wo sie mit ihrem Mann ein Baugeschäft eröffnet, dass heute bereits in dritter Generation existiert. Die Frauen bekommen Kinder - Steinmann drei, Helfert zwei -, es werden Häuser gebaut, die Kinder werden erwachsen und schenken ihnen Enkel - Steinmann drei, Helfert zwei - und inzwischen sogar Urenkel - Steinmann einen, Helfert zwei. Helfert lässt sich scheiden, heiratet erneut, ihr Mann stirbt ebenso wie der von Steinmann.
Heute wohnen beide alleine, aber sie sind nach wie vor eng befreundet, besuchen sich gegenseitig, gehen zusammen Kaffee trinken - und reden gerne über früher. »Ich kann nur immer wieder staunen, welche Dinge mir Sofie (Helfert, Anm. d. Red.) von damals erzählt. Obwohl wir gleich alt sind, weiß ich vieles nicht mehr«, sagt Steinmann. »Durch die schmerzhaften Ereignisse ist alles weg.«
Das Schicksal hat die beiden Frauen zusammengeschweißt. »Auch wenn sicher nicht alles toll war, es war eben so«, sagt Helfert heute. »Es gab Leute, denen ging es noch schlechter.« Und doch hat sie die Vergangenheit geprägt. Beiden ist wichtig, die sudetendeutsche Mentalität von Offenheit, Geselligkeit und Gastfreundschaft weiterzugeben - etwa an mich (siehe Zusatzkasten).