24. Juni 2021, 21:09 Uhr

Vom kleinen und vom großen Glück

Lebensweisheiten haben Konjunktur. Man kann sie sich auf Tapeten kleben, als Status auf WhatsApp stellen, auf Briefkarten drucken - oder sie mehr oder weniger elegant in ein Gespräch einfließen lassen. Aktuell angesagt ist dieser kleine Spruch: »Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.« Hört sich weise an, ist es aber nicht. Karl Winter sagt: »Es endet nicht alles gut. Wer das behauptet, redet sich die Dinge schön.« Das klingt ehrlich.
24. Juni 2021, 21:09 Uhr
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Von Burkhard Bräuning

Schüler haben’s - gerade in Corona-Zeiten - nicht leicht. Lehrer aber auch nicht. Als Karl Winter noch im Schuldienst war, gab es keine Extremsituation, wie wir sie heute haben. Aber es gab, insbesondere in Hessen, viele einschneidende Reformen. Es war die Friedeburg-Ära, eine Zeit der stetigen Veränderungen. Man erinnere sich nur an die Einführung der Gesamtschulen. Und somit gab es auch ständig Gräben und Risse. Die verliefen quer durch die Schulgemeinde: Lehrer, Schüler, Eltern und auch die Politiker lieferten sich über Jahre hinweg in Hessen harte Wortgefechte. Auch als Kultusminister Ludwig von Friedeburg nicht mehr im Amt war, gab es keinen Schulfrieden. Als Leiter der Oberstufe an der Theo-Koch-Schule in Grünberg stand Winter - von außen betrachtet - zwischen allen Fronten. Er sei, so sagt er, ein politischer Mensch, und er habe sich damals voll hinter die Gesamtschule-Idee gestellt. Aber er war kein Spalter, er suchte Einigung, den Kompromiss.

Wer ab den späten 1960er Jahren in Grünberg zur Schule ging, lernte Winter als einen Lehrer kennen, wie man ihn sich als Schüler wünscht: Er war leise und moderat im Ton, aber klar und bestimmt in der Sache. Er war den Schülern zugewandt, war offen, hatte keine Vorurteile. Notengeschenke verteilte er aber nicht. Winter begegnete den jungen Menschen mit Respekt. Und das spürten sie.

Aber der Reihe nach. Karl Winter, 1941 geboren, wuchs in Nidda auf, im Grenzland zwischen den Kreisen Wetterau, Vogelsberg und Gießen. An die letzten Kriegsmonate kann er sich noch erinnern. »Wenn wir die Luftschutzbunker wieder verlassen hatten, konnten wir sehen, wie Frankfurt und Gießen brannten.« Als das Töten 1945 endete, war der kleine Karl vier Jahre alt, lebte bei Mutter und Oma. Mit gleichaltrigen Jungs streifte er später über den von den Amerikanern gesprengten Flughafen bei Nidda-Harb. »Das Gelände war total verwüstet. Obwohl wir wussten, dass es gefährlich war, stiegen wir auch hinab in die unterirdischen Gänge. Aber wir waren vorsichtig.«

Winter weiß noch, dass er mit Mutter und Oma auf den Äckern rund um Nidda im Hochsommer Ähren sammelte. »Ich komme aus einer kleinbürgerlichen Familie, das Geld war knapp - und das Essen auch.« Trotz allen Leides um ihn herum, trotz allem, was war, fühlte er sich geborgen und behütet. Der Vater war im Krieg, danach bei Paris in Gefangenschaft. Er selbst sei »das Ergebnis eines mehrtägigen Fronturlaubs« gewesen, sagt Winter schmunzelnd. »Ich wusste nichts von meinem Vater. Aber eines Tages sagte meine Mutter: ›Der Papa kommt heim.‹ Als er dann wirklich kam, war er für mich erst mal ein Fremder.« Doch das änderte sich schnell. Der Junge fasste Vertrauen, und schon bald teilte er das Hobby seines Vaters, wurde Mitglied im Vogelsberger Höhenclub (VHC). »Wir wanderten gemeinsam, und ich habe viel von meinem Vater gelernt. Ich fragte ihn nach allem, was mich faszinierte. Vor allem Sonne, Mond und Sterne.« An die Zeit in der damaligen Volksschule hat Winter »nur angenehme« Erinnerungen. Leider warf ihn eine längere Krankheit, verbunden mit mehreren Krankenhausaufenthalten, um ein Schuljahr zurück, kaum dass er die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium geschafft hatte. So machte er erst 1962 das Abitur. »Gefeiert haben wir Schüler ganz unter uns.«

Er ging nach Marburg (»meine zweite Heimat«), studierte dort Deutsch und Politik, später, als er schon Lehrer war, auch noch Wirtschaftswissenschaften. Bei einem Bestatter, der seine Firma in dem Haus hatte, in dem Winter wohnte, verdiente er sich ein bisschen Geld. »Wir nannten den Mann ›Sarg-Konrad‹, und wir halfen ihm, wenn er Hilfe brauchte.«

Nach dem Staatsexamen war Winter zunächst in Gießen zur Ausbildung, danach in Wetzlar im Schuldienst. An der Wetzlarer Schule war er nicht glücklich. Sein früherer Klassenkamerad und Freund Arnulf Kuster ermunterte ihn zu einem Wechsel: In der Theo-Koch-Schule (TKS) in Grünberg sei die Stelle des Oberstufenleiters zu besetzen. Winter bewarb sich - und wurde eingestellt.

Leider kam bei der neuen Stelle der Unterricht selbst zu kurz. Es ging vor allem darum, das neue Oberstufenmodell in Grünberg umzusetzen. Winter kannte es bereits mit seinen Eigenarten von der Arbeit an der Wetzlarer Schule und vor allem auch durch seine Tätigkeit als Landesbeirat der hessischen Schülervertretung. In den vielen Tagungen und Schulbesuchen sammelte Winter dabei erste Erfahrungen. An der TKS wurde der Oberstufenunterricht ebenfalls völlig neu organisiert und für das neue Modell im Kollegium musste geworben werden.

Mit Harry Häuser, auch eine Legende der TKS, druckte er »Kursbücher«, die den Schülern einen Überblick gaben über das Angebot aller Fächer im kommenden Schuljahr. Winter besuchte mit dem umfangreichen Kursangebot die Schulen in der Region und baute dadurch nach und nach eine solide Oberstufe an der eigenen Schule auf.

Das sieht bis dahin nach einem Leben ohne Kurven, Sackgassen und Stoppschilder aus. Das war es aber nicht. Die erste Ehe, seine Frau hatte er beim VHC kennengelernt, scheiterte. »Es passte einfach nicht.« Auf die gemeinsame Tochter ist er stolz, nicht nur, weil sie als Lehrerin in die Fußstapfen des Vaters getreten ist. Seine zweite Frau Gabriele lernte er an der TKS kennen. »Das passte«, sagt er und lächelt wieder. »Bis heute!«

2004, im Alter von 63 Jahren, schied Winter aus dem Schuldienst aus. Noch im selben Jahr musste er sich einer schweren Herzoperation unterziehen, bekam unter anderem eine künstliche Herzklappe. »Ich habe ziemlich viel gequalmt in meinem Leben, da ist wohl viel kaputtgegangen.« Allerdings: Sein Vater habe mit 62 einen tödlichen Infarkt erlitten. Der Hausarzt sei damals noch mit dem Fahrrad gekommen. »Ich habe die OP ganz gut überstanden. Seitdem denke ich mehr über das Leben nach. Und über das Sterben. Ich habe keine Angst davor - wenn das Sterben nicht mit Schmerzen verbunden ist.« An ein Leben nach dem Tod glaube er nicht. »Wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Aber ich glaube an Gott - an all das Gute für den Menschen, wofür er steht.«

Und das Gute in seinem Leben? »Das ist meine Tochter, das ist meine Frau Gabriele. Und das waren die Reisen. Meine Frau hatte weniger Fernweh, aber mein Kollege Erhard Schepp umso mehr. Er war mein bester Kumpel, ein ehrlicher Freund. Leider lebt er nicht mehr.« Wenn man die zurückgelegten Strecken addiere, dann seien er und Schepp viermal um die Welt gereist. »Ich habe viele unterschiedliche Orte gesehen, aber auch welche, die um der Touristen Willen völlig verkitscht und unnatürlich geworden waren.« Malen zu können, das war Glück für Winter - und die Musik auch. Er ist ein großer Jazz-Fan und besucht den Grünberger Jazz-Club regelmäßig. Im Rentenalter versuchte er, Zugposaune zu lernen, aber die OP machte die Pläne zunichte. Große Träume habe er nun auch nicht mehr. »Mit 80 denkt man sich: Wenn ich nicht krank werde, dann ist alles gut.« Winter lehnt sich entspannt im Stuhl zurück. »Ich freue mich über das kleine Glück des Alltags - und über das große Geschenk, noch hier sein zu dürfen.« Gibt es so etwas wie ein Lebensmotto? »Ich sag mal so: Rückblickend akzeptiere ich mein Leben, wie es war. Mit allem Guten und mit allem, was nicht gut war. Ich kann es auch nicht mehr ändern. Gemacht ist gemacht.«

Bilder aus acht Jahrzehnten: Karl Winter in verschiedenen Lebensphasen (unten rechts mit Enkel Nicolas). Seit er in Grünberg lebt und arbeitet, ist er Leser der Gießener Allgemeinen Zeitung. »Ich möchte diese Zeitung nicht missen«, sagt er. FOTOS: GABRIELE WINTER/PRIVAT



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