07. Oktober 2021, 19:32 Uhr

»Lehrkräfte werden abwandern«

Bildung braucht bessere Bedingungen - so steht es in roten Buchstaben auf dem schwarzen T-Shirt, das Thilo Hartmann beim Interview trägt. Der hessische GEW-Chef spricht über Geld und Anerkennung im Beruf.
07. Oktober 2021, 19:32 Uhr
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Aus der Redaktion
Thilo Hartmann ist seit Kurzem neuer Vorsitzender der GEW in Hessen. Das Ziel für seine Amtszeit: Ungerechtigkeiten abbauen, sowohl bei der Bezahlung der Lehrer als auch in der Bildung von Kindern. FOTO: GEW LANDESVERBAND HESSEN

Thilo Hartmann hat Umhängetasche und Rollkoffer im Schlepp. Der frisch gewählte hessische Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist quasi auf der Durchreise. Von Dietzenbach via Frankfurt nach Weimar, zum Koordinierungsvorstand der GEW, einer Sitzung aller Landesvorsitzenden und des Bundesvorstands. Der Terminkalender ist prall gefüllt, und so wird es wohl auch die nächsten drei Jahre bleiben.

Herr Hartmann, können Sie weiterhin unterrichten?

Das geht leider nicht mehr. Der Landesvorsitz ist ein Fulltime-Job. Am Montag war ich noch einmal in der Schule, habe meinen letzten Unterricht gehalten und mich schweren Herzens verabschiedet, nach 18 Jahren. Ende nächster Woche werde ich dann noch den Kollegen und Kolleginnen »Auf Wiedersehen« sagen.

Bis vor ein paar Tagen waren Sie noch Lehrer, jetzt Gewerkschaftsfunktionär, auf drei Jahre gewählt. Sind Sie in diesen drei Jahren für Ihre Kollegen da oder für die Schüler?

Ich hoffe doch für beide. Wir sind eine Bildungsgewerkschaft, ich fühle mich guter Bildung ebenso verpflichtet wie guten Arbeitsbedingungen.

Gerade laufen Tarifverhandlungen, in die Sie eingebunden sind. Welches Gewicht haben dabei die Forderungen nach höheren Bezügen? Welche Rolle spielen Arbeitsbedingungen?

Es geht schon um eine spürbare Anerkennung der geleisteten Arbeit gerade auch in den letzten 18 Monaten, auch in monetärer Hinsicht. Auch für die angestellten Lehrkräfte und Sozialpädagogen muss es eine Aufwertung geben. Ebenso geht es um die vielen Lehrkräfte, die noch keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, an den Schulen aber eine wichtige Rolle spielen und dafür eher schlecht als recht entlohnt werden.

Bleiben wir beim Geld. Seit Jahren ist die Bezahlung der Grundschullehrkräfte ein Streitpunkt. Die GEW fordert eine Gleichstellung mit den anderen Lehrämtern, das Land Hessen verweigert sich dem aber. Sehen Sie eine Chance, die geforderte Gleichbehandlung zu erreichen?

Hessen wird sich dem nicht auf Dauer verweigern können, zumal wir jetzt mit Thüringen ein direktes Nachbarland haben, das allen Lehrkräften gleichermaßen den Tarif A13 als Eingangsbesoldung zahlt. Auch Bayern zahlt besser als Hessen, da wird es eine Abwanderung geben, und das, wo wir jetzt schon einen massiven Lehrkräftemangel gerade an den Grundschulen in Hessen haben.

Wie sieht es mit den Arbeitsbedingungen aus?

Ein hessischer Lehrer hat noch immer so viele Pflichtstunden zu unterrichten wie vor 140 Jahren, trotz vieler zusätzlicher Aufgaben. Auch im weltweiten Vergleich ist die Zahl der zu leistenden Unterrichtsstunden am höchsten, Lehrkräfte kommen auf 47,5 Arbeitsstunden je Woche. Viele sind nicht mehr in der Lage, das zu leisten.

Wie kann noch Unterricht für alle gewährleistet werden, wenn die vorhandenen Lehrkräfte weniger arbeiten sollen?

Es ist wichtig, Zeit zu haben, die eigene Arbeit auch gut zu machen. Das ist auch der Anspruch der allermeisten Lehrkräfte. Die aktuelle Überlastung vieler führt bei einigen langfristig in den Burn-out. Es braucht also weniger Pflichtstunden und auch kleinere Klassen, damit die vorhandenen Lehrkräfte ihren Job machen können, ohne krank zu werden.

Wie kann das erreicht werden?

Wir brauchen viel mehr Personal an den Schulen, deutlich mehr als heute. Zum einen natürlich ausgebildete Lehrkräfte. Dazu muss viel mehr ausgebildet werden als zurzeit, damit es diese neuen Lehrer auch gibt. Und wir brauchen die Sozialpädagogen im Unterricht, die es ja in Hessen auch gibt, aber eben in homöopathischen Dosen. Außerdem Schulpsychologen, Sozialarbeitende, Assistenzkräfte und und und. Gerade in Deutschland sind die Bildungschancen sehr ungleich verteilt, ist der Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund und Bildungserfolg sehr groß.

Ganztagsschulen gelten gemeinhin als gutes Instrument, diese Ungleichheit ein Stück weit zu egalisieren. Sind Hessens Lehrkräfte bereit, auch am Nachmittag in der Schule zu sein, um zu unterrichten?

Schon heute haben Lehrkräfte ja nicht mittags Feierabend und gehen nach Hause. Acht oder neun Unterrichtsstunden sind nicht selten, und zu Hause muss dann Unterricht noch vor- oder nachbereitet werden. Aber ja, Ganztagsschulen sind sicher ein gutes Modell, aber es kommt auf die Bedingungen an. Es kann nicht sein, dass dadurch noch mehr Arbeit auf die Lehrkräfte zukommt. Und solche Modelle müssen auch familienverträglich sein. Bei der Bildungsgerechtigkeit gibt es aber noch viel mehr Hürden. Viele Menschen haben einfach keinen Zugang zu Bildung. Das fängt bei der Sprache an oder bei Grundschulen in schwierigen Wohnvierteln, die nicht ausreichend ausgestattet sind, mit den Herausforderungen umzugehen. Diese Menschen bildungsfern zu nennen, halte ich für ungerecht, wir nennen ja auch arme Menschen nicht geld- oder finanzfern.

Wie soll das System Ihrer Ansicht nach aussehen?

Man hat mit Bremen ein gutes Beispiel vor Augen. Dort gibt es nur noch zwei Schulformen: das Gymnasium sowie Gesamtschulen, an denen man ebenfalls Abitur machen kann. Ein möglichst langes gemeinsames Lernen kann helfen, Bildungsungerechtigkeit abzubauen.



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