Es gab eine Zeit, da kannte ihn im Dorf jedes Kind. Es waren die Jahre, als die Vereine noch nicht auf dem Sterbebett lagen, als noch gemeinsam gesungen und getanzt wurde, als die Schützen noch Wettkämpfe durchführten, als 1990 das 650-jährige Bestehen des Dorfes eine Woche lang mit einem großen Fest gefeiert wurde. Als der Zusammenhalt noch da war, die Menschen sich noch trafen und das Dorfgemeinschaftshaus für viele so etwas wie ein zweites Zuhause war. Es waren die Jahre, als Karlheinz Jäger ein besonders aktiver Teil der großen Dorfgemeinschaft war. Er war einer, der Verantwortung übernahm, der die Initiative ergriff, Dinge voranbrachte. Acht Jahre lang war er Ortsvorsteher in Stockhausen, einem Ortsteil von Grünberg. Neben einigen Infrastrukturmaßnahmen wurde in dieser Zeit auch viel für die Dorfverschönerung getan. Verdienter Lohn war ein dritter Platz beim Hessenwettbewerb.
Das wichtigste Projekt war freilich die Erweiterung des Gemeinschaftshauses. Viele Dorfbewohner packten damals unter der Führung des Ortsvorstehers fleißig mit an. Jäger war auch zwei Jahrzehnte lang Ortsgerichtsschöffe und stellvertretender Ortsgerichtsvorsteher. Mehr als 50 Jahre hat er im Chor gesungen, war Feuerwehrmann, war immer da, wenn Hilfe gebraucht wurde. Solche Dinge stehen in den Biografien vieler Menschen, die in Dörfern oder Kleinstädten aufgewachsen und alt geworden sind. Sie hielten »den Laden am Laufen«, sorgten dafür, dass Missstände beseitigt und Projekte vorangetrieben wurden. Und dass es komplette Vorstände in den Vereinen gab. Lange her. Die Zeiten haben sich geändert. Es ist nicht überall gleich, aber im Dörfchen Stockhausen kann von einem aktiven Vereinsleben nicht mehr die Rede sein. Jäger kritisiert aber nicht die nachfolgenden Generationen. Eher nüchtern stellt er fest: »Die jungen Leute von heute haben ganz andere Möglichkeiten, ihre Freizeit zu gestalten. Was den Ortsbeirat betrifft, denke ich, es liegt viel an der Gleichgültigkeit, dem mangelnden Interesse vieler Dorfbewohner. Aber auch an den geringen Gestaltungsmöglichkeiten.« Er spricht es nicht aus, aber wenn beispielsweise der Chor wieder aktiv wäre, würde Jäger sich vielleicht nicht lange bitten lassen. Und säße wieder hinten im Bass, hätte seine Brille tief nach unten auf die Nasenspitze geschoben, um Noten und Texte zu lesen. Ein Fünkchen Hoffnung ist bei manchen noch da. Aber es reicht nicht, um ein Feuer zu entzünden. Auch, weil niemand vorangeht. Jäger hat genau das getan. Er hat sich an die Spitze gestellt. Mit einem klaren Ziel: »Ich wollte das Leben im eigenen Dorf lebenswerter machen.«
Karlheinz Jäger ist im Kriegsjahr 1940 geboren. Er hat in der Kindheit Ähnliches erlebt wie die anderen Leser, die wir im Rahmen dieser Serie porträtieren. Der Krieg hat bei allen Spuren hinterlassen. Die Frage »Was hat im Leben wehgetan?« beantwortet Jäger so: »Dass ich meinen Vater nicht richtig kennenlernte, dass ich ohne ihn aufwachsen musste. Wie mir erzählt wurde, habe ich ihn bei seinem letzten Heimaturlaub von der Front nicht erkannt. Ich hielt ihn offenbar für den Kriegsgefangenen, der bei uns auf dem Hof arbeiten musste.« Seit dem 10. Januar 1943 galt Karl Jäger als vermisst. Er starb vermutlich im Kessel von Stalingrad. Genaueres ist nicht bekannt. 1955 wurde er für tot erklärt. Sein Sohn Karlheinz hat nicht aufgeben, immer wieder neue Suchanträge gestellt. Doch bis heute gibt es keine konkreten Hinweise auf ein Grab, auf irgendetwas, an das man sich klammern kann. Es gibt keinen Ort, an dem die Familie Blumen niederlegen könnte.
Reinhard Mey, der über fast alle Situationen des Lebens ein Lied geschrieben hat, sagte einmal: »Je kaputter die Welt draußen ist, desto heiler muss die Welt zu Hause sein.« Was das betrifft, hatte Jäger Glück: Im Kreis der Familie, das waren im stattlichen Fachwerkhaus im »Hinterdorf« die Mutter, zwei ältere Schwestern und die Großeltern mütterlicherseits, fühlte er sich wohl und geborgen. Gleichwohl musste auch er schon als Kind mit anpacken: Im Stall, auf dem Feld, auch ab und zu beim Opa im »Vorderdorf«, der war Wagner und Stellmacher. Zum Spielen mit Freunden blieb da wenig Zeit. »Wenn ich aus der Schule kam, lag da im Sommer oft ein Zettel mit der Nachricht, auf welchem Acker gerade gearbeitet wurde. Da musste ich dann hinlaufen, helfen. Auch mussten die Kühe gehütet werden, denn Elektrozäune gab es damals noch nicht. Ich weiß noch, dass ich oft die Hausaufgaben draußen erledigen musste. Dabei nutzte ich im Westen der Gemarkung einen großen Stein am Waldrand als Tisch. Ich legte meine Schiefertafel darauf, schrieb und rechnete.«
Eingeschult wurde Jäger ein Jahr nach dem Kriegsende. Die Anfangsjahre waren geprägt von einem ständigen Wechsel der Lehrer. Auch Studenten aus dem Dorf wurden zur Aushilfe eingesetzt. Dann kam der noch heute von vielen geschätzte Lehrer Karl Sommer. Er sorgte für mehr und vor allem regelmäßigen Unterricht. Jäger hatte stets gute Noten und machte nach seinem Schulabschluss ab 1955 bei Heyligenstaedt in Gießen eine Ausbildung als Maschinenschlosser. »Morgens um 5.40 Uhr fuhr ich mit dem Zug nach Gießen und abends um 19.15 Uhr wieder zurück. Die ersten eineinhalb Jahre wurde auch noch samstags gearbeitet.« Nach der Lehre blieb er noch einige Jahre bei Heyligenstaedt. 1962 wechselte er zur Firma Rabofsky in Mücke-Merlau, aus der später die Firma FFT hervorging. Er legte seine Meisterprüfung ab, war Lehrlingsausbilder und viele Jahre lang Leiter der Mechanischen Fertigung. 42 Jahre arbeitete er für FFT.
Schon als ganz junger Mann hatte er klare Vorstellungen von seinem weiteren Leben. Er wollte heiraten, ein eigenes Haus bauen, Vater werden, eine Familie haben - und für die Menschen, die er mag und die er lieb hat, da sein. Wenn Paare ein Ehejubiläum feiern, dann wird oft erzählt, wie und wo sie sich kennengelernt haben. Das war früher oft bei einer Kirmes, überhaupt bei Festen, andere wussten schon in der Schulzeit, dass sie füreinander bestimmt sind. Karlheinz Jäger traf seine Frau Gerlinde bei einem Krippenspiel. Dabei war Jäger zunächst gar nicht Teil des Ensembles. Aber der junge Mann, der Josef spielen sollte, erkrankte. Und der damalige Gemeindepfarrer Werner Kalbhenn fragte Karlheinz, ob er die Rolle übernehmen möchte. Er wollte. Und traf auf Maria! Genauer gesagt: Er traf Gerlinde, sie war die junge Frau, die die Maria spielte. Das Paar harmonierte, auch später. Es passte für ein ganzes Leben.
1966 heirateten Karlheinz und Gerlinde, und im selben Jahr wurde mit dem Hausbau begonnen. In Zweijahressprüngen ging es weiter auf dem Weg zum Familienglück: 1968 Einzug ins neue Haus, 1970 wurde Sohn Stefan und 1972 Tochter Sabine geboren. Er selbst sagt über sein Leben: »Ich bin mit dem, was ich erreicht habe, was mir geschenkt wurde, zufrieden.« Als ein außergewöhnliches Erlebnis beschreibt er den Tag der goldenen Hochzeit, »die wir mit einer Andacht von Pfarrerin Cordula Michaelsen feiern konnten«.
Im Rentenalter lässt er die Dinge zwar ruhiger angehen. Aber er ist nicht der Vater und Großvater, der die Hände in den Schoß gelegt hat. Er baut, tüftelt, plant und werkelt immer noch. Und hat Spaß dabei. Im Sommer hat er im Garten alle Hände voll zu tun, im Winter liest er Bücher, und mit seiner Frau geht er gerne auf Reisen. Der Zusammenhalt in der Familie, auch der Kontakt zu Freunden und ehemaligen Kollegen sei ihm wichtig.
»Ich blicke dankbar auf ein erfülltes Leben zurück«, sagt er. Er glaube an Gott, ein Leben nach dem Tod könne er sich jedoch nur schwer vorstellen. Angst vor dem Sterben hat er nicht. Aber er möchte schon noch ein bisschen bleiben, bei denen, die er mag, die er lieb hat. Denn das war er ja, sein Traum vom Glück. Er ist in Erfüllung gegangen.