27. Januar 2023, 21:46 Uhr

»Jetzt beginnt ein neues Kapitel«

27. Januar 2023, 21:46 Uhr
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Von DPA
Tausende von Ukrainerinnen und Ukrainern haben nach ihrer Flucht in Hessen Arbeit gefunden. Eine von ihnen ist Irina Uschakowa (l.), eine ausgebildete Krankenschwester. dpa

- Langsam begleitet Irina Uschakowa eine zierliche alte Frau in den Speisesaal eines Frankfurter Wohnstiftes, stützt sie sanft. Die behutsamen Schritte sind für die 48-jährige Ukrainerin buchstäblich der Weg in ein neues Leben. Nach Monaten der Ungewissheit, nach ihrer Flucht aus Charkiv kurz nach Beginn des Krieges in ihrer Heimat kann nun Normalität beginnen - endlich. »Jetzt beginnt ein neues Kapitel«, sagt die schlanke Frau, die die schwarzen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden hat.

Ein Blick zurück: Es war gegen 4 Uhr am 24. Februar 2022, als Uschakowas Telefon klingelte und ein Freund rief: »Wir werden von den Russen bombardiert!« Der Moment war der Bruch im bisherigen Leben der Krankenschwester. »Die Menschen hatten seit Wochen über die Kriegsgefahr gesprochen - aber wir wollten nicht glauben, dass es so weit kommt«, erinnert sie sich.

Nicht lange danach dröhnten Flugzeuge und Sirenen über ihrem Haus. Es folgten Tage und Nächte im Schutzraum, die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, bis schließlich Freunde Anfang März auf dem Weg zur polnischen Grenze eine Mitfahrgelegenheit in ihrem Auto anboten.

Sehr viel mehr als eine Mitfahrgelegenheit war es nicht, so die Ukrainerin, die heute in Neu-Isenburg lebt. »Für einen Koffer war kein Platz im Auto. Ich packte einen kleinen Rucksack, meine Dokumente, trug mehrere Kleiderschichten.« Zumindest um ihren damals 20 Jahre alten Sohn musste sie sich keine Sorgen machen: Der Maschinenbaustudent verbrachte gerade ein Auslandsjahr an der Hochschule im polnischen Lodz. »Zum Militär wäre er aus gesundheitlichen Gründen ohnehin nicht gekommen«, sagt sie erleichtert.

Per Zufall in Hessen

Wie Hunderttausende ihrer Landsleute fand Uschakowa zunächst in Polen Aufnahme, wollte aber angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen weiter: »Manche Menschen schliefen auf dem Bahnhof, es waren überall Flüchtlinge.« Andere Länder hätten Busse geschickt, um geflohene Ukrainer aufzunehmen. »Auf dem Busbahnhof Warschau bin ich in einen Bus gestiegen - und der fuhr eben nach Frankfurt.«

Es war eine Fahrt ins Ungewisse, die bei einer jungen Familie im Wetteraukreis endete. »Sie haben mich aufgenommen, und es war, als hätten sie die Verantwortung für ein zweites Kind übernommen«, lächelt sie. »Ich konnte kein Deutsch, wir haben uns auf Englisch verständigt.«

Die Beziehung ist immer noch eng, so wurde gemeinsam Weihnachten gefeiert. Als Uschakowa über die Familie spricht, kommen ihr die Tränen. Auch bei ihrem Weg in ein neues Leben hätte sie hier die entscheidende Unterstützung bekommen. »Ich wollte so schnell wie möglich arbeiten, aber ich konnte doch nicht die Sprache.«

Gemeinsame Internet-Recherchen führten zu dem Personaldienstleister Talent Orange in Neu-Isenburg, der Pflegefachkräfte aus dem Ausland rekrutiert und ihnen ein Vollzeit-Stipendium zum Deutschlernen bis zum Goethe-Zertifikat B2 gibt.

7148 Ukrainer im Job

»Für Privatleben war monatelang keine Zeit«, lächelt Uschakowa. Zehn Stunden am Tag habe sie in der Regel mit Unterricht, Vorbereitung und selbstständigem Lernen verbracht. Doch es hat sich gelohnt: Im ersten Anlauf bestand sie die Sprachprüfung. Heute ist es schwer vorstellbar, dass sie noch vor einem Jahr kein Wort Deutsch sprach. Und auch der Wunsch, sich wieder selbst versorgen zu können, wurde wahr: Seit knapp zwei Wochen arbeitet sie auf der Pflegestation eines Wohnstifts in Frankfurt.

An ihrem neuen Arbeitsplatz ist sie noch »nur« als Pflegehilfskraft eingestellt. »Wir warten auf die Anerkennung ihrer Dokumente durch das Regierungspräsidium«, sagt Jenni Martin, Leiterin des Wohnstifts. »Dann kann sie auch als Pflegefachkraft arbeiten.« Dann könne Uschakowa etwa auch Medikamente austeilen, kleine Wunden versorgen und andere Aufgaben übernehmen, die nur von Fachpersonal ausgeführt werden dürfen.

In dem Wohnstift ist Uschakowa die erste geflüchtete Ukrainerin in einer Anstellung. Doch auch andere geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer sind in Hessen mittlerweile sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Zahl der Beschäftigten aus der Ukraine ist nach Angaben der Regionaldirektion der Arbeitsagentur im vergangenen Jahr um 62 Prozent auf 7148 gestiegen. Dazukommen noch rund 35 000 Menschen, die zwar grundsätzlich Arbeit suchen, derzeit aber meist in Sprachkursen und anderen Qualifizierungen stecken. Direktionschef Frank Martin rechnet mit guten Ergebnissen der überdurchschnittlich gut gebildeten und sehr motivierten Flüchtlinge, von denen viele im Frühjahr eine Beschäftigung aufnehmen könnten. »Das ist eine Chance für sie und auch für den deutschen Arbeitsmarkt.« dpa



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