27. Januar 2023, 18:31 Uhr

»Jahrzehntelange Fehlplanung«

27. Januar 2023, 18:31 Uhr
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Aus der Redaktion
Thilo Hartmann ist der Vorsitzender der GEW in Hessen. FOTO: PM

- Der Lehrermangel an den Schulen in Hessen wie im Rest der Republik spitzt sich zu. Am Mittwoch debattierte der Landtag in Wiesbaden über Lösungen. Am Freitag legte die Kultusministerkonferenz ihre Empfehlungen vor. Der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW Hessen, Thilo Hartmann, erläutert die drängendsten Probleme bei der Suche nach qualifiziertem Personal.

Was ist das größte Problem an den Schulen?

Das brennendste Problem ist, dass wir einen Lehrkräftemangel haben, der es Schulen immer schwerer macht, den Unterricht vollständig zu erteilen.

Sind alle Schulformen gleichermaßen betroffen?

Nein, das gilt vor allem für Grundschulen, Berufsschulen, Förderschulen sowie Haupt- und Realschulen, vor allem in Brennpunkten. An Gymnasien und im ländlichen Raum ist die Lage etwas entspannter.

Woran liegt das?

An Gymnasien gibt es Aufstiegsmöglichkeiten und vorgeblich attraktivere Einsatzmöglichkeiten. Zudem sind in der öffentlichen Wahrnehmungen die sozialen Problemlagen im Gymnasium oder in ländlichen Regionen geringer. Deshalb gibt es dafür auch genügend Studierende und Referendare. Für die anderen Schulformen finden wir nicht genug Interessenten, die ein Lehramtsstudium aufnehmen. Wieder anders ist es an den Grundschulen. Dafür hätten wir genügend Interessenten, es gibt aber nicht genug Studienplätze. An allen Universitäten, an denen man in Hessen Grundschullehramt studieren kann, sind nach wie vor Zulassungsbeschränkungen in Kraft.

Welche Auswirkungen hat der Personalmangel?

Wenn nicht genügend Lehrkräfte da sind, fällt Unterricht aus. Zuerst zusätzlicher Förderunterricht. Dann in Nebenfächern, aber auch in Hauptfächern. Und es kommt zu verdecktem Unterrichtsausfall. Das heißt, eine Lehrkraft kümmert sich um zwei Klassen gleichzeitig und erteilt Lernaufträge. Aber das muss häufig aus der Hüfte geschossen werden und ersetzt natürlich keinen regulären Unterricht. Ähnliches gilt für Stunden, die Betreuungskräfte halten. Insgesamt steigt so die Arbeitsbelastung für die Lehrkräfte, die Aushilfen zusätzlich anleiten müssen. Darunter leiden vor allem die Kinder, die am meisten Hilfe benötigen, etwa aus armen Elternhäusern oder mit »frischer« Migrationsgeschichte.

Wo liegen die Ursachen?

Die größte Ursache ist eine jahrzehntelange Fehlplanung, die auch dadurch entstanden ist, dass man gar keine Daten dazu erhoben hat, wie viele Lehrkräfte in Zukunft gebraucht werden. Das hat sich jetzt geändert. Aber bis neue Lehrer fertig ausgebildet sind, vergehen sechs bis acht Jahre. Und dazu braucht es zwei Dinge: Mehr Studienplätze und ausreichend junge Erwachsene, die sich für dieses Studium interessieren. So lange die Arbeitsbedingungen so unattraktiv sind, wie im Moment, ist das schwierig.

Zwölf Wochen Ferien und ein Halbtagsjob lautet überspitzt das Klischee vom Lehrer-Job, das noch immer weitverbreitet ist. Was kritisieren Sie an den Arbeitsbedingungen?

Dieser Eindruck ist falsch. Lange Arbeitszeiten, eine hohe Arbeitsverdichtung und ein schlechtes Standing in der Gesellschaft machen den Beruf unattraktiv. Theoretisch haben Lehrer 30 Urlaubstage. Weitere freie Ferientage gleichen zusätzliche Arbeitsstunden aus. Lehrer arbeiten nach einer wissenschaftlichen Belastungsstudie der Uni Göttingen 47,5 Stunden wöchentlich. Hinzu kommt Arbeit an Wochenenden und während der Ferien. Die reine Unterrichtszeit macht nur ein Drittel der Gesamtarbeitszeit aus. Das zweite Drittel ist direkte Vor- und Nachbereitung inklusive Korrekturen, ein weiteres Drittel Organisation, Koordinierung und Papierkram. Hinzu kommt eine wachsende Heterogenität der Schülerschaft, die alle Problemlagen der Gesellschaft abbildet.

Wie wollen Sie dann junge Menschen dennoch für den Beruf begeistern?

Es ist ein fantastischer und unglaublich sinnstiftender Beruf mit einer großen gesellschaftlichen Bedeutung. Und es ist - bei aller Belastung - eine interessante Aufgabe mit vielen Querschnittsthemen, von Inklusion über die Integration von Geflüchteten bis hin zu Demokratieförderung. Das motiviert viele Kollegen.

Was muss sich ändern?

Die Lehrer brauchen mehr Zeit für jedes einzelne Kind. Und wir wünschen uns mehr gesellschaftliche Wertschätzung für diese wichtige Berufsgruppe. Die Qualität der Bildung ist wesentlich für den demokratischen Zusammenhalt.

Was versprechen Sie sich von den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz?

Wir erwarten von der KMK vor allem verbindliche Vorgaben für die Landespolitik, Lehrkräfte in ausreichender Zahl auszubilden und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zudem sollte ein gegenseitiges Abwerben unter den Ländern unterbunden werden.

Christine Warnecke



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