04. Oktober 2021, 19:55 Uhr

Den Anschlag begreifen

Am Donnerstag soll eine Jury darüber entscheiden, wie das Mahnmal aussehen wird, das künftig an den rassistischen Anschlag in Hanau erinnern soll. Gözde Saçiak war Mitglied im Fachbeirat zur Auswahl des Mahnmals und wirft einigen der Modelle vor, den Kern von Rassismus zu verkennen.
04. Oktober 2021, 19:55 Uhr
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Aus der Redaktion

Frau Saçiak, Sie kritisieren unter anderem, dass Matthias Braun im Entwurf »Bruchstücke« kleine Figuren, die weiß und blond sind, vor Spiegel stellt. Weshalb?

Die Spiegel sollen den Betrachtern laut Herrn Braun zeigen, dass der Anschlag sie selbst hätte treffen können. Es war aber ein rassistischer Anschlag. Weiße waren nicht gemeint. Zu suggerieren, es hätte alle gleichermaßen treffen können, und dies - ähnlich wie Stephan Quappe Steffen mit seinen spiegelnden Oberflächen - zu einem wesentlichen Element des Mahnmals zu machen, halte ich für sehr problematisch. Es verkennt den Kern von Rassismus. Susanne Lorenz verwendet ebenfalls Spiegel. Sie konfrontiert die Leute allerdings damit, dass sie Teil des »WIR« sind, eine Verantwortung dafür tragen, was in dieser Gesellschaft geschieht. Lorenz ist die Einzige, die kritischere Fragen an die Betrachter stellt.

Laut Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) sollte das Mahnmal »in die Zukunft gerichtet sein und Inhalte wie Vielfalt, Zusammenleben, Gemeinschaft zum Thema haben«.

Die Morde wurden aufgrund einer rassistischen Überzeugung begangen. Um dem etwas entgegenzusetzen, möchten viele lieber über Vielfalt reden. Es geht hier aber um Rassismus. Ihn nicht klar zu benennen, löst ihn nicht auf. Im Gegenteil, es macht ihn unsichtbar. Es ist wichtig, den Anschlag mit seinen strukturellen, gesellschaftlichen Verflechtungen zu begreifen und aufzuarbeiten.

Hanau hat nach dem Anschlag seine Vielfalt und seinen Zusammenhalt betont.

Einerseits trifft die Darstellung zu: Hier leben unterschiedliche Menschen zusammen. Andererseits sind auch in Hanau Rassismus und Diskriminierung jeden Tag präsent. Dafür muss man nur den Angehörigen der Opfer zuhören: Serpil Temiz Unvar beschreibt, dass ihr Sohn Ferhat in der Schule Rassismus erlebte. Und als vor ein paar Jahren Roma aus ihren Wohnungen am Hauptbahnhof gedrängt wurden, hat sich fast niemand mit ihnen solidarisiert. Politik und Medien reproduzierten sogar rassistische Stereotype. Wenn Hanau in Mahnmalmodellen als Einheit erscheint, die durch den Anschlag in »Bruchstücke« geschlagen wurde, entsteht der Eindruck, es habe vorher keine Probleme gegeben.

Die Zusammensetzung der Künstler sehen Sie ebenfalls kritisch. Warum?

Es fällt auf, dass in der letzten Runde nur weiße Personen dabei sind. Rassistische Gewalt spricht Menschen ihr Recht auf Existenz und Teilhabe ab. Daher kann nur ein Gedenken, das diesen Ideen radikal widerspricht, angemessen sein. Natürlich kann das Mahnmal auch von weißen Menschen gestaltet werden, doch die Perspektiven der Betroffenen müssen im Mittelpunkt stehen.

Aber die Angehörigen sind Teil der Jury.

Um ihre Perspektiven in den Mittelpunkt stellen zu können, ist ein Wettbewerb die falsche Methode. Dort werden weitgehend fertige Entwürfe eingereicht. Zum Teil wurden die Modelle zwar nach - sehr spät erfolgten - Gesprächen mit den Betroffenen etwas verändert, aber das war nur das i-Tüpfelchen auf etwas Fertigem, keine echte Teilhabe.

Gibt es ein Gedenken, bei dem die Beteiligung Ihrer Ansicht nach gelungen ist?

Vorbildlich lief es im Juz in Kesselstadt. Dort wurden mit Geschwistern und Freunden, deren Sichtweisen im Fokus standen, mehrere Formen des Gedenkens entwickelt, die im Detail darauf eingehen, was für Menschen die Opfer waren und was sie ihren Nächsten bedeutet haben.

Am intensivsten dürfte die Debatte um den Standort des Mahnmals werden. Was ist Ihre Position?

Die unmittelbar Betroffenen fordern von Anfang an ein Mahnmal auf dem Marktplatz. Ich habe den Eindruck, dass viele Hanauer ebenfalls für diesen Standort sind. Nach dem Anschlag wurde das Grimm-Denkmal ja - ohne Absprache - zum zentralen gemeinsamen Gedenkort, mit Blumen, Kerzen und Bildern. Die Stadt sollte sich klar zu diesem Standort bekennen, statt zu sagen: Wir sollten den Künstlern vertrauen, sie wissen, was am besten ist.

Nicht alle waren für dieses Gedenken am Denkmal. Der Landtagsabgeordnete Heiko Kasseckert (CDU) forderte nach sechs Monaten eine Rückkehr zur Normalität, wie Teile der Bürger.

Das erinnert mich immer an das Werk »Normalität 1-10« von Hito Steyerl. Darin dokumentiert sie kaum beachtete, »alltägliche« Vorfälle antisemitischer und rassistischer Gewalt in den 90ern, um zu zeigen: Was für manche Normalität ist, bedeutet für andere Bedrohung. Die zentrale Frage ist also: Zu welcher Normalität sollen wir zurückkehren? Einer Normalität, in der ein rassistischer Mörder im Stadtteil wohnt, Gewaltfantasien hegt und umsetzt? Ich kann nur hoffen, dass ein Modell die Betroffenen überzeugt, auch wenn sie erst spät einbezogen wurden. Und dass die städtischen Gremien ihrem Standortwunsch nachkommen.



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