In dem Film »Jenseits der Stille« gibt es eine bewegende Szene, in der ein gehörloser Vater, der Martin heißt, und seine Tochter Lara aus einem Fenster in den Hof ihres Hauses schauen. Schnee fällt, Cellomusik ist zu hören. Lara und Martin unterhalten sich in Gebärdensprache. »Siehst du diese schöne Nacht«, sagt der Vater. »Schau sie dir gut an, die Dinge verändern sich schnell. Bald ist Frühlingsanfang, der Schnee wird schmelzen.« Beide schauen zu, wie der Schnee langsam zu Boden rieselt. Er fragt: »Wie klingt der Schnee? Was sagt er dir?« Und sie antwortet: »Ehrlich gesagt, sagt der Schnee nicht viel. Man sagt sogar, dass der Schnee alle Geräusche verschluckt. Wenn Schnee liegt, ist alles viel leiser.« Und sie legt den rechten Zeigefinger auf ihre Lippen.« Er fragt: »Ehrlich. Der Schnee macht die Welt leise? Das ist schön!«
Diese Szene ist ein Moment des Friedens und der Harmonie. Aber gleich danach diskutieren beide wieder über die Dinge des Alltags. Und so ist es doch auch in Wahrheit. Meist ist unser Leben Alltag. Aber genau das macht solche emotionalen Momente zu Oasen des Glücks. Herbert Grönemeyer singt in seinem Lied »Sekundenglück« auch davon.
Behütet in einer schweren Zeit
Mein Kollege Philipp Keßler und ich haben in diesem Sommer viele Momente des Glücks miterlebt. Immer dann, wenn unsere Leser aus ihrem Leben erzählt haben. Meist begann das Vorbereitungsgespräch so: »Aber was soll ich denn sagen, mein Leben war doch gar nichts Besonderes.« Aber dann hatten alle doch ganz viel zu erzählen. Uns ist aufgefallen, dass alle über die mageren Jahre vor, während und nach dem Krieg gesprochen haben. Was kein Wunder ist, denn es war eine andere Welt damals. Es gab nicht viel. Nur Hoffnung auf bessere Zeiten. Was nicht bedeutet, dass es den Kindern, die unsere Leser damals waren, schlecht ging. Alle erzählten davon, wie behütet sie sich gefühlt haben, wie sicher in einer ansonsten unsicheren Zeit. Man rückte zusammen. Musste es auch tun. Viele Fremde kamen in die Region: Vertriebene, Flüchtlinge, »Ausgebombte« aus den Städten. Sie suchten Zuflucht auf dem Land. Kaum eine Familie, die nicht Menschen, die alles verloren hatten, Gastfreundschaft gewähren mussten. Mag sein, dass manche das nicht so gerne taten, aber viele eben doch.
Es wurde von den Spielplätze der damaligen Zeit erzählt, und das waren die Dorfstraßen, die Felder und Wälder. Fußball wurde gespielt. Später baute man für die eigenen Kinder Schaukeln und Rutschen. Vom Duft des Weihnachtsfestes war die Rede. Vom Läuten des Glöckchens zur Bescherung, vom Singen vor dem Weihnachtsbaum.
Die erste Liebe und die Liebe fürs Leben
Erzählt wurde auch davon, wie die eigenen Großeltern verehrt wurden, und da denke ich vor allem an die Geschichte von Luise Wismar, von der alten Dame, die alle Omi nannten. Über die erste Liebe, die manchmal zugleich die Liebe fürs Leben war, wurde gesprochen. Und davon, wie es war, als man dann selbst Kinder bekam und schließlich auch Enkel. Es wurde von Sonnenaufgängen über dem Vogelsberg geschwärmt - und von großen und von kleinen Festen. Aber es ging nie ums Geld, außer bei Herrn Horn aus Pohlheim. Er sprach allerdings nicht von seinem Geld, sondern von der Gemeindekasse, die er als Kämmerer verwaltete.
Oft wurde vom Warten erzählt. Und manchmal mit einem sehr traurigen Hintergrund. Zum Beispiel von dem Warten auf den Vater, der nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrte. Weniger dramatisch, aber dennoch außergewöhnlich, war das Warten auf ein Flugzeug, das einen in Corona-Zeiten nach Hause bringt. Auch das Warten auf Brieftauben war ein Thema.
Es ging bei allen Gesprächen um das, was das Leben wirklich ausmacht. Alle Interviewten haben Familie, einen Beruf, eine Aufgabe. Alle stellten sich Herausforderungen, alle haben sich im Verein, in der Kirche, in der Politik oder wo auch immer engagiert. Und sie haben von ihren ganz persönlichen Glücksmomenten geredet. Aber auch Trauriges nicht ausgespart. Manches haben die sechs Männer und vier Frauen mit dem Hinweis erzählt, dass es nicht in die Zeitung kommen soll. Weil es eben zu privat, zu persönlich war. Sehr verständlich.
Apropos Zeitung: Die Gesprächspartner sind alle Leser unserer Zeitungen, die wir in Gießen, Alsfeld und in der Wetterau herausgeben. Mein Kollege Philipp und ich waren geradezu begeistert, was für eine treue Leserschaft die Zeitungen unseres Verlags haben. Denn immer wieder hörten wir diesen Satz: »Die Zeitung gehört zu meinem/unserem Leben.«
Wir beenden die Serie heute und richten den Blick auf unsere Jubiläumsausgabe, die am 2. Oktober erscheint.