Es brodelt in dem Gießener, der am Freitag gegen 13 Uhr auf der Autobahnbrücke steht, die im Zuge der Rödgener Straße über die A 485 führt. »Ich bin mit meinem Vater zum Kaffeetrinken verabredet. Der ist 83 und steht da hinten seit zwei Stunden im Stau«, sagt er und zeigt Richtung Süden, wo der Verkehr vor der Behelfsabfahrt Grünberger Straße zum Stehen gekommen ist. »Wer bezahlt den ganzen Scheiß? Du bestimmt nicht«, blafft er eine junge Frau an, die mit ihm über Verkehrspolitik diskutieren will.
Gut vier Stunden vorher haben sich drei Mitstreiter der Aktivistin von der südlichen der beiden Autobahnbrücken gut einen Meter abgeseilt und zuvor ein Transparent mit der Aufschrift »Statt Autobahnen Tram+Fahrradstraßen« am Brückengeländer angebracht.
Die Gruppe aus dem Umfeld der Gießener Verkehrswende-initiativen ist am Morgen mit der Vogelsbergbahn und Fahrrädern nach Gießen gefahren, um die nächste öffentlichkeitswirksame Aktion gegen den Weiterbau der A 49 und die Rodung von 27 Hektar Wald im Dannenröder Forst durchzuführen. Gegen 8.30 Uhr beginnt sie, bereits wenig später ist die Polizei zur Stelle, die Abseilaktion indes können die Beamten nicht mehr verhindern. Drei Unterstützer der Kletterer, die sich zu diesem Zeitpunkt auf der Brücke aufhalten, werden vorläufig festgenommen und zur Personalienfeststellung ins Polizeipräsidium gebracht.
Etwa eine Viertelstunde nach Beginn der Aktion sperrt die Polizei die A 485 aus Sicherheitsgründen komplett, sofort bilden sich Rückstaus in Richtung Nord- und Südkreuz. Auch die Grünberger Straße wird gesperrt, was zu einer Überlastung der Rödgener Straße führt. Nachdem die Stadt die Ampel an der Kreuzung über der Autobahn ausschaltet, kommt der Verkehr wieder ins Rollen.
Die drei Personen, die auf beiden Seiten der Brücke baumeln, seien nicht in Gefahr, erklärt Jörg Bergstedt von der Saasener Projektwerkstatt. »Das sind erfahrene Kletterer. Die hängen oberhalb der Fahrzeughöhen und nicht direkt über der Fahrbahn.« Das sieht die Polizei anders: »Sie bringen sich und andere unbeteiligte Personen in Gefahr«, sagt Polizei-Pressesprecherin Kerstin Müller. Gegen die Abgeseilten, zwei Männer und eine Frau, laufen Ermittlungen wegen Nötigung und Widerstand, gegen ihre drei Unterstützer wegen Beihilfe zur Nötigung. Ferner prüft die Polizei, ob den Aktivisten die Kosten des Einsatzes in Rechnung gestellt werden können.
Feuerwehr legt Sprungkissen aus
Gut eine Stunde nach Beginn der Sperrung ist klar, dass es dauern kann, bis die Autobahn wieder frei sein wird. Wie bei vorherigen Abseilaktionen, muss die Polizei erst ein Höheninterventionsteam heranführen. Ein Kalkül der Aktivisten ist offenbar, dass diese Höhenretter aus dem Dannenröder Forst abgezogen werden, dort somit keine Baumhütten geräumt werden können und sich die Rodung weiter verzögert.
Neben der Aktion in Gießen finden nahezu zeitgleich ähnliche Blockadeaktionen an der A 7 bei Kassel und Flensburg, der A 4 in Thüringen und Sachsen und der A 2 bei Braunschweig statt. Bergstedt bestätigt: »Es ist eine koordinierte bundesweite Aktion von Verkehrswendeinitiativen.« Ein Pressefotograf murmelt ungläubig: »Mit ein paar Leuten kann man das ganze Land lahmlegen.«
Auch die Gießener Berufsfeuerwehr ist im Einsatz und platziert unter den baumelnden Personen drei Sprungkissen. Von der Zufahrt Ursulum rollt ein Leiterwagen mit Korb heran, jetzt fehlen nur noch die Höhenretter der Polizei. Auf der Brücke hat sich indes etwa ein Dutzend Sympathisanten der Abgeseilten eingefunden und spricht ihnen per Megafon Mut zu: »Haltet durch, ihr seid nicht allein«, ruft einer und erklärt den Hintergrund: »Mit solchen Aktionen wird Aufmerksamkeit für das Anliegen erzeugt, dass wir eine Verkehrswende in diesem Land brauchen.«
Andere Zaungäste sind eher der Meinung, dass die Aktivisten eine Sanktion brauchen. »Sofort in Untersuchungshaft mit denen«, ruft einer und ein anderer meint: »Einfach abschneiden. Die fallen doch weich.«
Auf einem Balkon oberhalb der Brücke steht Randy Uelman, Vizevorsitzender der Gießener CDU, ebenfalls mit einem Megafon. Er bedankt sich bei der Polizei und ruft: »Ökoterroristen. Haut ab, haut ab.« Als die Aktion nach fast fünf Stunden mit der Bergung und Festnahme der drei Abgeseilten beendet ist, spielt er »We are the champions« von Queen über das Megafon ein. »Man kann gegen alles protestie- ren, aber nicht so wie die«, erklärt er seine spontane GegenDemo.
Auf dem Weg zum Einsatz wird ein Streifenwagen in einen Unfall verwickelt und ein Polizist leicht verletzt. Es bleibt die einzige Verletzung.