Der Abbau des stillgelegten Kernkraftwerks Biblis hat begonnen. 15 Jahre sind insgesamt für das Projekt veranschlagt. Wir durften ins Innere eines Reaktorblocks blicken.
14. Juli 2017, 12:29 Uhr
Von Gerd Chmeliczek
»6, 5, 4, 3, 2, 1, 0. Nicht kontaminiert.« Ein wenig erleichtert bin ich schon, als die Computerstimme in der Schleuse das Ergebnis des Scans verkündet. So richtig Sorgen musste ich mir nicht machen: Im Block A des stillgelegten Kernkraftwerks Biblis sind die Brennelemente bereits abtransportiert, der Abbau hat begonnen. Es ist ein Mammutprojekt, für das es keine echte Blaupause gibt.
Fotostrecke: Biblis: Kraftwerksabbau ist Mammutaufgabe
Für jemanden, der zum ersten Mal in das Innere der Kuppel geht, ist das Prozedere zumindest Respekt einflößend. Kraftwerks-pressesprecher Alexander Scholl und ich schlüpfen in Overalls, ziehen drei Lagen Überschuhe pro Fuß an. Handschuhe, Helm und Brille gehören ebenso zur Ausrüstung wie ein »Dosimeter«, das die Dosis der Strahlung messen soll, der wir in den kommenden Minuten ausgesetzt sind. Die Kleidung dient zum Schutz vor schwach kontaminierten Objekten wie Werkzeugen oder Kisten. Dicke Stahltüren, enge Gänge. Es ist warm im Inneren der Kuppel. Arbeiter sind unterwegs. 700 Angestellte hatte der Betreiber RWE hier einmal im Einsatz. Mittlerweile sind es nur noch 350. Das Ziel ist eine Rückbaumannschaft von 270 plus die Mitarbeiter der Fachfirmen.
Block A ist »brennstofffrei«
Es sei schon ein Schock gewesen, erzählt Pressesprecher Scholl. Er meint den August 2011, als dem Betreiber von der Bundesregierung die Berechtigung zur Stromerzeugung am Standort in Südhessen entzogen wurde. Rückblick: Am 11. März 2011 führten ein schweres Erdbeben und ein Tsunami zu einer Reaktorkatastrophe in der Atomanlage von Fukushima. Danach spitzt sich die Diskussion um Atomenergie in Deutschland zu. Die schwarz-gelbe Koalition in Berlin vollzieht eine energiepolitische Kehrtwende. Schon am 6. Juni 2011 beschließt das Kabinett das sofortige Aus für acht Atomkraftwerke und den stufenweisen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022.
Block A in Biblis wurde am 18. März 2011 heruntergefahren. Block B befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer planmäßigen Revision, sodass er nicht vom Netz genommen werden musste. RWE folgte damit der Anordnung des hessischen Umweltministeriums zur dreimonatigen Abschaltung (»Atom-Moratorium«). Die Anlage wurde nie mehr angefahren
52 dieser Schrauben spannten den Reaktordeckel.
Zurück in der Gegenwart: Wir befinden uns in 21 Metern Höhe im Inneren des Reaktorblocks A. Vor uns das Abklingbecken, in dem die Brennelemente fünf Jahre zwischengelagert waren, ehe sie in die Castoren verladen wurden. Wir stehen in einer Stahlkugel, die zum sechsteiligen Barrierekonzept gehört. Genau in die Mitte der Kugel hallen unsere Stimmen von den Wänden zurück. Seit November 2016 ist der Block A in Biblis frei von Brennstoffen. Seit Frühjahr 2017 ist der Block B dran. Bis Mitte kommenden Jahres sollen alle Brennelemente in die Castoren verladen sein und im Zwischenlager stehen. Es werden dann 103 Behälter mit jeweils 19 Brennelementen sein. Bislang sei alles planmäßig verlaufen, sagt Scholl. 83 Castoren sind befüllt, 20 stehen noch aus.
Weiteres Lager im Bau
Ich schiele auf mein Dosimeter. 0,0 wird angezeigt. Irgendwie hat man schon Respekt vor dem, was hier einmal gelagert war. Das Gitter, in dem die Brennelemente aufgereiht waren, liegt noch im Abklingbecken, das 17 Meter tief ist. Gewaltig sind die 52 Schrauben, die den Reaktordeckel gespannt haben. Eine davon wiegt 780 Kilogramm. Insgesamt hat RWE 1,5 Milliarden Euro für den Rückbau veranschlagt.
In den Gängen des Reaktorblocks sind Gerüste aufgestellt, die riesigen Dampferzeuger sind bereits abisoliert. Die richtig schweren Arbeiten sind noch nicht im Gange. Seit dem 1. Juni ist das Kernkraftwerk nicht mehr im sogenannten Nachbetrieb, sondern im Modus »Restbetrieb und Abbau«. Dafür sind insgesamt 15 Jahre veranschlagt. Im Moment ist man dabei, die Infrastruktur vorzubereiten. Dafür sind auch Neubauten notwendig, weil in den Blöcken zusätzliches technisches Equipment eingerichtet werden muss. Denn wenn die Räume leer geräumt werden, sind die Materialien entsprechend zu bearbeiten, zu zerkleinern und zu verpacken.
RWE rechnet im Zuge des Abbaus mit 63 000 Tonnen kontaminiertem oder aktiviertem Material. Aktiviert bedeutet, dass Material durch Radioaktivität verändert wurde. Seitens des Betreibers geht man davon aus, dass man durch die Nachbearbeitung und Reinigung des kontaminierten Materials 56 000 Tonnen als »normalen« Schrott abgeben kann. Der Rest kommt erst einmal in zwei Lager auf dem Gelände, die für schwach und mittel radioaktive Materialien konzipiert sind. Das erste Lager steht bereits, das zweite befindet sich im Bau. Ab etwa 2022 soll für diesen radioaktiven Müll der Schacht Konrad in Salzgitter zur Verfügung stehen.
Für die Brennelemente ist im Moment noch keine Lösung in Sicht. Nach dem Gesetz zur Endlagersuche, das im März dieses Jahres in Berlin verabschiedet wurde, soll der Standort bis 2031 gefunden sein und Mitte des Jahrhunderts in Betrieb gehen. Das Zwischenlager in Biblis ist bis 2046 genehmigt.
Gebäude bleiben vorerst
Ich schwitze unter meinem Helm. Es könnte mal jemand ein Fenster aufmachen, denke ich so bei mir, ehe mir dämmert, was das für ein Unsinn ist. Über der Stahlkugel liegen mehrere Schichten Stahlbeton. In der Kuppel gibt es eine sogenannte Lüftungsbarriere. Im Inneren herrscht Unterdruck, damit immer nur Luft von außen nach innen gelangt und nicht umgekehrt. Die Unterschiede sind allerdings so minimal, dass ich sie nicht bemerke. Dass das System läuft, erkennt man unter anderem an dem Fähnchen, dass über der Schleuse angebracht ist. Es wird nach innen »geweht«.
Ich schäle mich aus dem Overall, das Dosimeter zeigt weiter 0,0 an. In den beiden Schleusen wird nichts festgestellt. Wir sind wieder draußen, auf dem rund 35 Hektar großen Kraftwerksgelände. Man merkt, dass in Biblis nicht mehr mit voller Sollstärke gearbeitet wird. Wurde an einem der Blöcke eine Revision durchgeführt, sind Container für die Mitarbeiter der Fachfirmen aufgestellt worden. »Da waren rund 2000 Menschen auf dem Gelände«, erklärt Scholl. Die Container sind abgebaut, leere Trakte im Verwaltungsgebäude umgestaltet. Zum Beispiel zu Schlafplätzen für die Werksfeuerwehr.
Der Abbau des Kraftwerks erfolgt von innen nach außen. Die Silhouette wird aber noch lange zu sehen sein. »Ziel ist es, dass die Gebäude in 15 Jahren so weit zurückgebaut sind, dass sie aus dem Atomgesetz entlassen werden können«, sagt Scholl. Sollte dann niemand Interesse an einer Nutzung haben, erst dann werden die Kuppeln und die Kühltürme abgerissen.
Info
Rund um die Anlage
Geschichte: Block A lieferte am 25. August 1974 erstmals Strom ins öffentliche Netz. Block B wurde am 25. März 1976 in Betrieb genommen. Die Baukosten für Biblis A betrugen etwa 800 Millionen Mark, für Biblis B etwa eine Milliarde. In den Siebzigern waren zwei weitere Blöcke, C und D, geplant. Während Biblis D schnell verworfen wurde, endeten die Planungen für Biblis C erst 1995.
Leistung: Das Kernkraftwerk Biblis lieferte mit zwei nahezu baugleichen Druckwasserreaktoren eine Gesamtleistung von rund 2500 Megawatt in das Stromnetz. Waren beide Blöcke am Netz, wurde so Strom für etwa sechs Millionen Haushalte produziert. Bis zur Abschaltung hat das Kernkraftwerk über 500 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert. Die Menge reiche laut RWE aus, um die etwa 40 Millionen deutschen Haushalte mehr als drei Jahre mit Elektrizität zu versorgen.
Druckwasserreaktor: Das Kraftwerk wird mit Druckwasserreaktoren betrieben. Dabei wird – vereinfacht gesagt – mit der Energie, die bei der Spaltung von Atomkernen frei wird, Wasser unter hohem Druck aufgeheizt. Es entsteht Dampf, der auf die Turbinen geleitet wird. Die beginnen zu rotieren und treiben dadurch den mit ihnen verbundenen Generator an. Im Generator beginnt Strom zu fließen, der über das Stromnetz zum Verbraucher gelangt.
Klage: RWE hat vor wenigen Tagen die Schadensersatzklage gegen das Land Hessen fallen gelassen. Der Energiekonzern hatte vor dem Landgericht Essen Schadensersatz in Höhe von 235 Millionen Euro gefordert. Die Rücknahme der Klage ist Teil des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Betreibern deutscher Kernkraftwerke, der Ende Juni unterzeichnet wurde. Die Atomkonzerne EON, RWE, EnBW sowie Vattenfall besiegelten mit dem Staat am 26. Juni dieses Jahres ein milliardenschweres Finanzpaket zur Entsorgung nuklearer Altlasten. Es sieht vor, dass die vier Energieriesen rund 24 Milliarden Euro in einen staatlichen Entsorgungsfonds zahlen. Der Fonds soll die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls regeln. Wie hoch diese Kosten am Ende sein werden und wann sie anfallen, ist bislang noch unklar.
Störfälle: Seit Inbetriebnahme wurden für beide Biblis-Blöcke über 800 Störfälle gemeldet. Die allermeisten dieser Fälle waren auf der INES-Skala (Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse) der Kategorie 0 zuzuordnen. Das bedeutet, es handelte sich um Ereignisse ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung. Als gravierendster Störfall wird allgemein ein Vorfall im Jahr 1987 im Block A angesehen. Durch einen Bedienungsfehler war für kurze Zeit ein Leck entstanden, aus dem hoch radioaktives Kühlwasser in den Raum außerhalb des Sicherheitsbehälters entwich. Innerhalb kurzer Zeit hätte – so die Einschätzung einiger Experten – das gesamte Kühlsystem zusammenbrechen können. Im Nachgang wurde über die Gefahr eines möglichen GAUs diskutiert. Der Fall sorgte auch deshalb für Debatten, weil er erst erheblich später durch Recherchen des US-Fachmagazins »Nucleonics Week« bekannt wurde. Er wurde im Nachhinein mit Einführung der bereits erwähnten INES-Skala auf Stufe 1 gesetzt, was eine »Störung« bedeutet, die zweitniedrigste Stufe in diesem Bewertungsschema.